Zu wem gehörte also dieses Ding?
Oder war es gar keine Schuppe?
Es bestand jedenfalls nicht aus Metall. Es wies auch keine Schnitzkerben auf. Also war es nicht von Menschenhand gemacht worden. Korvin ahnte, dass dieses Ding mit Mathildas Verschwinden zusammenhing. Nur der letzte Groschen war noch nicht bei ihm gefallen. Er könnte es Ulrich zeigen, wenn er diesen um eine Audienz bat. Aber was sollte das bringen? Außerdem mochte er ihn nicht.
Auf der Burg selbst hielt man sich sehr bedeckt, was Mathildas Verschwinden anbelangte. Niemand wollte, dass herauskam, dass die Grafentochter wie vom Erdboden verschluckt war. Ein hervorragender Nährboden für Gerüchte, in dem der Teufel eine Rolle spielen sollte, das durfte man, nebenbei bemerkt, nicht laut aussprechen.
Friedrich von Helfenstein hatte offiziell verlauten lassen, dass jeder, der dieses Gerücht weitererzählte und zu seiner Verbreitung beitrug, gehängt werden würde. Die Helfensteiner seien bis auf das letzte Mitglied eine ehrenhafte und vor allem gottesfürchtige Familie. Der Teufel hätte keinen Grund, einen von ihnen zu holen, denn Gott hielt seine starke Hand über die Familie. Jeder, der etwas anderes behauptete, wäre ein Lügner und würde ohne Gnade zum Tode verurteilt.
Das hatte das Gerede der Leute abrupt verstummen lassen, denn niemand wollte deshalb sterben. Unter der Hand glaubten aber alle daran, dass es trotzdem so war, auch wenn sie keinen Grund für eine solche Tat anführen konnten.
Nur Korvin glaubte es nicht.
Er steckte das Ding wieder in seine Tasche. Er brauchte dringend Schlaf, damit er wieder klarer nachdenken konnte, wie es weitergehen sollte. Langsam war er verzweifelt. Je länger er keinen Anhaltspunkt fand, desto kälter würde die Spur werden, der er folgen musste. Korvin hatte es sich mittlerweile so eingerichtet, dass er, ausgehend von dem Findling immer größer werdende Kreise darum herum ablief. Als das nichts brachte, wanderte er in der Gegend um Tizimbach alle Wege ab, die es gab. Mittlerweile hatte er seine Suche bis nach Deckingen ausgedehnt. Von dort kam er gerade her. Morgen, am Sonntag, würde er die andere Richtung ausprobieren, nach Gosbach hin. Es war nur dumm dabei, dass er überhaupt nicht wusste, nach was er suchen sollte. Und noch schlimmer war: Er war allein und das Gebiet riesengroß. Es war zum Heulen.
Traurig steuerte Korvin das Haus seiner Eltern an. Seine Mutter hatte ein kleines Talglicht ins Fenster gestellt. Vermutlich, dass er besser heim fand. Dafür liebte er sie.
Als er das Häuschen betrat, schliefen die anderen schon. Korvin zog sich aus und schlüpfte leise in sein Strohbett. An Schlaf war jedoch nicht zu denken, denn seine Gedanken kreisten um das, was er heute Abend noch erfahren hatte und ihn jetzt grübeln ließ. Auf seinem Weg nach Deckingen hatte er sich zwei anderen Männern angeschlossen, die auf dem Weg in das dortige Wirtshaus waren.
"Habt ihr schon das Neueste gehört?", hatte der eine angefangen. Der andere und Korvin hatten mit dem Kopf geschüttelt. Korvin hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich für das Gespräch der beiden interessiert. Aber was dann kam, hatte ihn aufhorchen lassen.
"Nein? Dann erzähl ich's euch. Hab's von nem Schäfer, der's wiederum von nem Wachmann der Burg hat, welcher es direkt vom Burgvogt höchstpersönlich gehört hat, als der sich mit dem Grafen darüber auf der Hiltenburg unterhalten hatte."
"Ja, ja, jetzt spann uns nicht so auf die Folter, sondern spuck's endlich aus. Wen interessiert's schon, von wem du's hast."
"He, nicht hetzen, ja? Also, bevor das junge Ding, weißt du, das vom T... ich meine natürlich das verschwundene junge Fräulein vom Grafen verschwunden ist, hat man endlich einen Ehemann für Sie gefunden gehabt. Eine richtig gute Partie, die viel Geld für die Grafschaft eingebracht hätte. Und dann, dann ist das Mädel einfach abgehauen und verschwunden. Jetzt sitzt der Graf natürlich in der Bredouille, ob und wie er ihr Verschwinden erklären soll. Sein ältester Sohn hat ihm wohl geraten, es vorerst dabei zu belassen, vielleicht würde sie, bis es kritisch wird, wieder auftauchen. Und wenn's soweit is, kann man sich immer noch ne gute Ausrede überlegen, warum die Heirat nich zustande kommt.
Also ich würd's ja mit der Pest begründen oder so was ähnlichem. Oder was meinst du, Sepp?"
Doch dieser hatte nur gelangweilt gegrunzt und gemeint, er würde was Interessanteres zu hören kriegen als das hier. Was interessierte ihn schon das Burgfräulein und die Sorgen der Grafen von Helfenstein? Ihn plagte eher die Frage, wie er im Wirtshaus zu einem kostenlosen Bier kommen könnte. Korvin hingegen war ins Gespräch eingestiegen, hatte aber leider nichts weiter aus dem Bauern herausbekommen. Die Tatsache allerdings, dass Mathilda jemandem versprochen war, ließ ihn keine Ruhe finden. Auch jetzt nicht. Hatte er überhaupt irgendeine Chance, sie zu finden? Und wenn ja, was dann? Wie würde es weitergehen? Er hatte es sich fest vorgenommen, ihr seine Gefühle zu gestehen und um ihre Hand anzuhalten.
Würde sie ihn zurückweisen? Oder ihr Vater? Nun, wenn er sie rettete, konnte er dann überhaupt abgewiesen werden? Oder sollte er besser mit ihr fliehen? Diese und andere Fragen beschäftigten ihn. Auf die meisten wusste er keine Antwort. Und so wurde dies eine lange, schlaflose Nacht.
Mathilda lag in dieser Nacht ebenfalls wach. Sogar nicht allzu weit entfernt von der Hiltenburg, ihren Eltern oder Korvin. Gerade einmal eine Stunde Gehzeit trennten sie von dem, was sie kannte, wo sie aufgewachsen war, sich sicher und geborgen gefühlt hatte. Allerdings war sie nicht in einem warmen, angenehmen Haus, sondern im Drachenloch Ragnor'roks. Das lag unterhalb vom oberen Dorfteil von Trackenstein in einem bewaldeten Steilhang, zu dem keiner, der einen guten geistigen Gesundheitszustand hatte, freiwillig hinkam. Die Trackensteiner mieden diesen Ort schon seit Jahrzehnten. Nicht nur wegen der unheimlichen Ausstrahlung, den dieser Ort umgab.
Mathilda kuschelte sich tiefer in die Felle, die ihr Ragnor'rok gegeben hatte. Sie befand sich im hintersten Teil dieser tief in den Fels führenden Karsthöhle. Der Drache hatte ein kleines Feuer für sie entfacht. Mit seinem massigen Leib lag er zum Höhleneingang und verdeckte den Feuerschein nach außen hin. Den Rauch davon sog er einfach ein, damit auch dieser ihre Anwesenheit nicht verraten konnte. Es war Mathilda verboten, Feuer zu machen, wenn er nicht da war. Und es war besser, sich daran zu halten. Ein zorniger, wütender Drache war unberechenbar und konnte ihren Lieben jederzeit etwas Schreckliches antun, so wie er ihr bereits am ersten Tag unmissverständlich klar gemacht hatte.
"Wenn es sein muss, werde ich sie alle fressen, deine Mutter, deinen Vater, deine Brüder und Schwestern, ja, die ganzen verdammten Burgbewohner, wenn du auch nur ein Mal versuchst, meinen magischen Kreis zu durchbrechen", hatte er sie angeknurrt. Mathilda hatte also keine Wahl gehabt und sich gefügt.
Sie war seine Gefangene und er gedachte nicht, sie jemals wieder frei zu lassen, weil er ein Faible für sie hatte. So viel hatte Mathilda schon herausbekommen. Ragnor'rok sah sie als seinen Besitz an.
Was sie auch schnell gelernt hatte, war, dass er sie zwar nicht fesselte und sie sich frei bewegen konnte, jedoch nur innerhalb der Grenzen, die er ihr abgesteckt hatte. Er brachte ihr Essen und Kleidung, wenn sie es brauchte. Die Mahlzeiten waren karg und meist bestanden sie aus Ziegen- oder Schaffleisch. Nur manchmal bekam sie Brot oder Obst. Woher der Drache das bekam ließ er ihr gegenüber offen. Zu Mathildas damaliger Verwunderung konnte der Drache immerhin reden, auch wenn seine Aussprache rau und grollend klang und sie genau zuhören musste, was er von sich gab. Sie durfte sogar die Höhle verlassen. Auch, wenn er nicht da war. Ragnor'rok hatte ihr aber zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht weiter als 300 Meter vom Drachenloch entfernen durfte. Zwei Mal hatte sie es versucht, doch der Drache hatte es mitbekommen und sie unsanft zurückgeholt. Sie konnte sich das nur durch einen Zauberbann erklären, den er um die Höhle herum gelegt hatte. Bisher hatte der Drache ihr nichts getan. Wenn er hier war, fühlte sie sich unwohl und beobachtet. Denn genau das tat er: er starrte sie unentwegt an. Ein paar Mal hatte er versucht, ihr Haar mit seinen Krallen zu berühren, doch sie hatte ihn dreist abgewehrt. Er hatte nur gelacht. Und wartete ab. Vermutlich rechnete er damit, dass sich das mit der Zeit ändern würde. Anscheinend wollte er mehr von ihr, als ihr lieb war. Aber Mathilda schwor sich, dass das nie der Fall sein würde. Niemals würde sie sich einem Drachen hingeben! Sie hatte schon viele junge wie alte Männer abgelehnt, was kam es da auf einen Drachen mehr oder weniger an, dachte sie grimmig. Allerdings, wenn Ragnor'rok es darauf anlegte, hätte sie keine Chance. Wie auch, gegen einen Drachen! Allerdings wusste Sie auch nicht, wie so etwas körperlich möglich sein könnte, und das beunruhigte und beruhigte sie zugleich. Mathilda wusste ja nicht, dass der Drache die Möglichkeit hatte, Menschengestalt anzunehmen, wenn er es wollte. Ragnor'rok würde dies aber erst tun, wenn er sich ganz sicher war, dass Mathilda ihm nichts antat. War er in menschlicher Gestalt doch verwundbar. Natürlich hätte er einen großen, starken menschlichen Körper wählen können, um sie sich zu nehmen. Aber das machte keinen Spaß. Er wollte aus einem ihm unbekannten Grund ihr Vertrauen und ihre Liebe gewinnen. Deshalb tat er dies nicht. Und wartete eben. Er hatte Zeit. Er war die Zeit.
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