Bald fühlte sie sich wieder rundum sauber. Und vor allem: warm. Die Quelle schien sie nicht nur von außen zu wärmen.
Sie fühlte sich einfach toll. Doch nichts hielt ewig.
Wenig später musste sie dieses Paradies wieder verlassen. Mathilda quengelte daraufhin so lange, bis ihr der Drache versprach, dass sie hin und wieder mit ihm dorthin kommen durfte, um das heiße Wasser zu genießen. Das war ihr genug und ein gewisser Sieg, den sie errungen hatte dem Drachen gegenüber. In dicke Felle eingehüllt nahm Sie Ragnor'rok wieder mit zurück zum Drachenloch.
Neruun hatte genug gesehen und wandte sich, ohne das geringste Geräusch zu machen, von dem Geschehen ab, das er gerade in aller Heimlichkeit beobachtet hatte. Er hatte die ganze Zeit über im Dunkel des Waldes gestanden und hatte sich nicht gerührt. Der Drache Ragnor'rok war viel zu sehr mit dem beschäftigt gewesen, was ihn hierher getrieben hatte, als dass er Neruuns Anwesenheit bemerkt hätte. Einmal hatte der Greif kurz den Eindruck, dass die Menschenfrau, in deren Gesellschaft sich der Drache befand, ihn bemerkt hätte. Daraufhin hatte er die Augen geschlossen und war weiterhin ruhig stehen geblieben. Als er sie das nächste Mal öffnete, war die Frau schon ins Wasser gestiegen.
Der Greif konnte es nicht fassen.
Wie konnte man nur so dumm sein!
Ein Mensch! Besser gesagt, eine Menschenfrau, wobei das Geschlecht hier wahrlich keine Rolle spielte. Mensch war Mensch, egal, ob Mann oder Frau.
Und das Ganze auch noch IM magischen Quell! Zugelassen hatte dies doch tatsächlich der Drache selbst! Nein, er hatte es nicht nur zugelassen, er hatte den Quell der Menschenfrau in voller Absicht gezeigt und sie hierher gebracht!
Das war eindeutig Verrat.
Verrat an den hier beheimateten magischen Wesen, welche allesamt geschworen hatten, den Quell vor den nichtmagischen Menschen geheim zu halten. Bisher hatten sich alle daran gehalten, denn jedes magische Wesen wusste, was passieren würde, wenn die Quelle entdeckt würde: die Magie würde aus dieser Gegend verschwinden und könnte von ihnen nicht mehr genutzt werden. Sie würden ihre Heimat verlieren. Selbst der Drache konnte doch nicht so dumm sein, er wusste das doch auch!
Neruun schüttelte verächtlich seinen Adlerkopf, während er eine Tatze seines Löwenkörpers vor die andere setzte. Die magische Quelle ließ er mit jedem Schritt ein Stück weiter hinter sich. Seine großen gefiederten Schwingen waren eingeklappt und standen wie bei einem Schmetterling nach oben. Sie streiften nun die winterlich mit Schnee bedeckten, unteren Zweige der kleineren Waldbäume, so dass hinter ihm der Schnee in Flocken herabfiel.
Die Drachen waren überheblich. Das waren sie schon immer gewesen, wusste Neruun. Allen voran Ragnor'rok, wie es schien.
Zugegeben, das Verhältnis zwischen Drachen und Greifen war von Natur aus miserabel. Sie waren, um es genau zu sagen, schon immer Feinde gewesen, dachte er. Keiner konnte jeweils die Art und Handlungsweise des anderen verstehen. Nun ja. Man konnte die wenigen Momente in den vergangenen Jahrhunderten, in denen Greife und Drachen einer Meinung waren, an einer Klaue abzählen. Also gut, vielleicht im Ansatz, in ganz, ganz seltenen Fällen, gestand er sich ein. Sie waren zu verschieden, wie Hund und Katz eben, um es einfach auszudrücken. Meist lebten Greife und Drachen daher nicht so eng beieinander wie es Neruun und seine Sippe und Ragnor'rok taten. Bisher hatte diese Koexistenz auch nur funktioniert, weil der Drache lange Zeit geschlafen hatte. Kaum war er wieder wach, stellte er unglaublich dämliche Dinge an.
Den Quell an einen Menschen verraten! Das ging mal gar nicht, fand der Greif.
Seltsam.
Der Drache hatte seinen Eid gegenüber der magischen Bevölkerung gebrochen, dachte Neruun, obwohl Drachen sonst immer zu ihrem gegebenen Wort standen.
Eidestreue, eine der wenigen guten Eigenschaften eines Drachen. Das einzig Gute, was sie hatten, fügte der Greif für sich noch in Gedanken hinzu. Sonst waren sie gewieft und hinterhältig.
Was den Drachen wohl zu diesem fatalen Schritt bewogen hatte? Neruun konnte ja nicht wissen, dass Ragnor'rok in dieser Menschenfrau seinen Hort sah und die Offenbarung der Quelle nicht als Wortbruch wahrnahm, sondern als Erweiterung seiner selbst. Schließlich gehörte der Hort eines Drachen zum Drachen selbst, aus Drachensicht natürlich. Für einen Greifen höchst unverständlich.
Der Grund war unwichtig, schnaubte Neruun deshalb auch in sich hinein.
Es war Verrat!
Krieg? - Nein. Das war sicherlich nicht die Art der Greifen. Greife gingen nicht so plump wie Drachen vor. Von brutaler Zerstörungswut hielten sie nicht viel. Sie waren wesentlich sorgsamer und intelligenter in ihrem Vorgehen. Zuerst einmal galt es, die Greifensippe und die anderen magischen Wesen darüber zu informieren, was Neruun gesehen hatte.
Egal, was der Drache damit bezweckte oder vorhatte, von nun an würde jedenfalls Neruun alles daran setzen, Ragnor'rok einen Strich durch dessen Rechnung zu machen und diese verräterische Tat des Drachen an den Fabelwesen zu sühnen. Mit diesem Gedanken zeichnete er mit den Krallen ein Ornament in den Waldboden und überschritt es anschließend. Nebel perlte um den Greifen auf und verschluckte ihn buchstäblich. Zurück blieb der kalte Winterwald.
Kapitel 12
Gosbach, in der Dorfschenke, anno 1428
Die kalte Jahreszeit neigte sich langsam dem Ende zu, als Korvin endlich einen weiteren Anhaltspunkt erhielt, wo Mathilda stecken könnte. Es war Freitagabend und er bediente seit langem wieder einmal in der Gosbacher Dorfschenke, um sich ein paar Kreuzer dazu zu verdienen. Sein Vater und seine Mutter sahen das wohlwollend, glaubten sie doch, dass er endlich vernünftig würde. Doch Korvin tat es heute nur, weil er frustriert war. Frustriert, weil ihn seine Wanderungen nicht weiterbrachten. Er hatte schon lange nicht mehr ausgeschenkt, weil er die Zeit lieber draußen nutzte und nach Mathilda suchte. Viel sprang bei der Bedienerei zwar nicht heraus, denn die jungen Mädchen bekamen wesentlich mehr Trinkgeld als er, aber was sollte er machen? Frauenbrüste hatten nun mal mehr Wirkung auf angetrunkene Männer als ein breites Kreuz und ein Stoppelbart.
Korvin war weiterhin fast jeden Tag in der Umgegend einher gestapft und suchte nach Anhaltspunkten. Dabei hatte er einiges vernachlässigt. Langsam verlor er auch die Hoffnung, jemals etwas zu finden. Mathilda war verschwunden und blieb verschwunden. Ulrichs Gerücht erschwerte es ihm dabei sehr. Denn ab jetzt durfte er keine Fragen mehr stellen, da Mathilda offiziell auf der Burg weilte. Er musste sehr aufpassen, wie er fragte, wenn er fragte. Und das Gerede über Mathildas Verschwinden ebbte seitdem zusehends ab. Die Leute schwatzten gerne, vergaßen aber auch wieder schnell und widmeten sich lieber neuen Dingen. Für Sie war das Thema durch, seit das Mädchen angeblich gefunden worden war. Korvin seufzte und sah wieder auf den Bierkrug, den er gerade füllte. Eine weiße Schaumkrone hatte sich auf dem goldenen Gebräu abgesetzt, was man aber in dem tönernen Krug nicht sah. Er griff sich einen zweiten Krug und hielt ihn unter den Hahn. Die Schenke war gut gefüllt. Korvin kannte einige hier. Junge wie alte Dorfbewohner waren hier und gaben ihr sauer verdientes Geld aus, nur um nebenbei ein Schwätzchen unter sich ohne ihre Weiber halten zu können.
Dass er ausgerechnet hier in diesem stickigen, verrauchten und von Bier- und Mostduft schwangeren Raum den richtigen Hinweis erhielt, hätte er sich nicht träumen lassen.
Gerade, als er die beiden Bierkrüge zu dem Tisch hinüber brachte, wo sie bestellt worden waren, betraten drei Fremde die Schankstube. Der Kleidung nach handelte es sich um Spielleute, die von Dorf zu Dorf zogen und Unterhaltung brachten. Kurz verstummten die Gespräche an den Tischen und der Theke, während die Neuankömmlinge von den Dorfbewohnern gemustert wurden. Als man die Fremden eingeschätzt hatte und dabei verblieben war, dass Sie nichts Böses wollten, begann das Palavern von neuem. Korvin betrachtete sie genauer.
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