In diesem Moment wurde mir klar, warum er mich leichtfertig davon schickte. Damals war ich seine einzige Hoffnung. War als letzter Drache mit ihm zusammen und damit die einzige Lösung gewesen, dass die Drachen nicht aussterben. Jetzt hatte er erfahren, dass seine Artgenossen noch existierten. Er brauchte meinen Drachenkörper nicht mehr. Die Drachen würden erwachen und sich vermehren, bis sie so zahlreich wie vor Parims Herrschaft waren.
'Ich dachte, du freust dich darüber', meinte Dran'gorr, der meine Gedanken nicht hatte lesen können, weil ich sie vor ihm verschlossen hatte.
'Ich freue mich. Es ist schön, dass du nicht mehr allein sein wirst.'
Dran'gorr lachte fröhlich, so fröhlich, wie ich ihn nie hatte lachen hören – mein Herz zerbrach.
'Xyma'la, ich werde dich nie vergessen. Denke daran, wir Drachen leben sehr lange.'
Ich nickte und schluchzte innerlich. Mir war klar, warum ich nicht bei ihm bleiben konnte. Zu den Somanern konnte ich auch nicht mehr zurück. Es war der Fall eingetreten, vor dem ich die meiste Angst hatte, als ich mich für Soma entschieden hatte: Ich gehörte nirgendwo hin, hatte keinen Platz, der mir Heimat und Geborgenheit bot. Ich vermied es, Dran'gorr in die Augen zu blicken - ich wusste tief in meinem Inneren, dass ich eine Entscheidung zu treffen hatte.
Meine Verwandlung in einen Menschen war konsequent. Mit gesenktem Kopf ging ich einen schmalen Pfad in die Ebene unter dem Drachenhorst, wo ich mich mit Dran’gorr zuletzt aufgehalten hatte. Ich blickte nicht mehr zurück und verabschiedete mich auch nicht von dem schwarzen Drachen. Meine Seele, meinen Geist verschloss ich vor allen Lebewesen, um mit meinem Schmerz allein zu sein.
Der Mond funkelte hell, sodass ich sogar auf den dunklen Wegen schnell voran kam. Die gesamte Natur war wie ein bizarres Gemälde in silbernes Licht getaucht. So schön es auch war, das Rauschen der silbernen Blätter im Wind wahrzunehmen, so herrlich es auch war, barfuß durch das weiche Gras zu laufen – ich hatte keinen Blick für all diese Schönheit. Meine Sicht war nach Innen gerichtet, ich versank in Selbstmitleid. Ich wollte diesen tief sitzenden, brennenden, bohrenden Schmerz durch Tränen lindern, aber meine Qual war so groß, dass ich nicht weinen konnte.
Musste ich mich meinem Schicksal ergeben?
Ich lief und lief, wusste nicht mehr, wie lange ich gelaufen war, als ich plötzlich vor einer Stelle stehen bleiben musste, die genau meinen Seelenzustand widerspiegelte: trist und gleichzeitig wunderschön – ein kleiner Teich in Mondlicht getaucht. Spärliche Pflanzen und imposante Geröllbrocken in allen Größen und Formen am Fuße des Ufers schützten diesen wunderbaren Ort des ruhenden Wassers. Einer der Steine war gerade klein genug, dass ich auf ihn klettern konnte und meine Füße bequem auf den trockenen, mit Moos bewachsenen Boden stellen konnte. Der selbe Stein war hinten ein wenig höher, sodass ich mich anlehnen konnte. Er war geformt wie ein grob gehauener, steinerner Sessel.
Ich blickte mich weiter um: Dunkle, dicht stehende Tannen wuchsen um den Steinkreis, in dessen Mitte sich der Teich befand. Es war ein geheimnisvoller, mystischer, fast unheimlicher Ort, der mich dennoch nicht ängstlich werden ließ. Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich hier bleiben und mich kein Lebewesen finden würde. Also starrte ich beruhigt und mit einem Gefühl, dass ich an diesem besonderen Ort beschützt wurde, in das Wasser des Teiches, das wie die Umgebung in Silber getaucht war. Kein Laut war zu hören. Keine Zweige knackten, keine Insekten summten, kein Wind wehte leise durch die Tannenzweige. Ich begann mich in meinen Gedanken und der Leere zu verlieren und saß da, saß einfach nur da...
Plötzlich spürte ich mein brennendes Gesicht, wachte auf, öffnete erschrocken meine Augen und schloss sie sofort wieder. Die Sonne schien direkt in die Mitte des Teiches und blendete mich. Vorsichtig berührte ich mein Gesicht, ob sich Schwellungen zeigten infolge von Verbrennungen – zum Glück nicht. Ich blickte auf den Boden, versuchte dem hellen Sonnenlicht auszuweichen, verließ den Steinkreis und versuchte, mich genauer zu orientieren.
Die dunklen Tannen um den Teich herum ließen kaum Helligkeit durch. Ich flüchtete in deren Schatten, um keinen Sonnenbrand zu riskieren. Natürlich hätte ich mich schnell selbst heilen können, es hätte mich kaum Kraft gekostet. Doch hatte ich nicht den Somanern ans Herz gelegt, dass ich meine Magie nur sinnvoll einsetzen wollte? Als ich daran dachte, überkam mich wieder die gesamte Pein, wegen der ich mich an diesem zauberhaften Ort befand. Wem sollte ich jetzt noch mit gutem Beispiel vorangehen? Ich war allein und konnte machen, was ich wollte, wenn ich niemand anderem schadete. Mir konnte ich in diesem mystischen Tannenwald sinnvoll helfen. Ich wusste nicht, wo ich mich befand, hatte Hunger und Durst und wusste nicht, wo ich Essen finden würde. Ich wusste nicht einmal, wo ich anfangen sollte zu suchen! Was sprach also dagegen, mich – das erste Mal, seit ich auf Soma war – zu verwöhnen?
Als ich meinen Weg durch den dunklen Tannenwald nahm, erreichte ich eine kleine Lichtung. Diese Lichtung war mit spärlichem Gras bewachsen. Darauf stolperte ich zu, ließ meine Kräfte, meine Magie wirken und blickte mich zufrieden um. Auf einer weichen Decke ließ ich mich nieder, aß das leckere gebratene Hühnchen, trank den süßen Rotwein, knabberte an dem herzhaften Käsebrot und den violetten, saftigenTrauben. Nach dem königlichen Mahl wartete ich, ob sich bei mir Schuldgefühle einstellen würden. Keineswegs konnte ich derartiges empfinden. Selbst dann nicht, als ich mir noch einen kleinen Schnaps zum Schluss herbeizauberte. Nein, warum auch?
Ebenso die weiche Matratze, auf der ich mich genüsslich ausstreckte, weckte nicht diese Gefühle in mir, die ich seit Jahren auf Soma empfunden hatte.
Am Abend ruhte ich am Teich und beobachtete im stillen, klaren Wasser den Aufgang des Mondes.
Ich seufzte: 'Heute ist Vollmond. Das heißt, es fängt der Sommer an. In drei Monaten ist Mittsommerfest.‘
Bestimmt hätte man mich aufgefordert, dieses Jahr das Feuerwerk zu übernehmen.
'Pech! Sucht euch doch einen anderen Magier, mit dem ihr machen könnt, was ihr wollt und der sich alles gefallen lässt! Sollte er zu einem bösen Gesellen mutieren, erinnert ihr euch eben an Alena. Die hilft euch wieder aus der Patsche! Auf einen Somaner mehr oder weniger auf der Liste, die die von meiner eigenen Hand Ermordeten aufführt, kommt es nicht mehr an! Einmal Mörder - immer Mörder!'
Verbittert starrte ich in das silberne Wasser. Meine schwermütigen und böen Gedanken erschreckten mich. Ich erkannte mich nicht mehr! Das durfte ich nicht mit mir geschehen lassen! Ich musste endlich mit meinem Ärger, dem Brennstoff meiner Wut, fertig werden und meinen inneren Frieden finden. Doch wie, wenn mir keiner half, keiner helfen konnte? Wo sollte ich anfangen, wo aufhören? Ich sank in meinem Felsensessel zusammen, ließ den Kopf zurückfallen und starrte den Mond an. Dieser Mond war größer als der auf der Erde. Soma war größer als die Erde. Ich sinnierte weiter. Ob der Mond die Gezeiten auf Soma regelte wie es auf der Erde war? Bei den großen Meeren, von denen mir Dran'gorr erzählt hatte. Gab es dort Gezeiten? Mir wurde in diesem Moment bewusst, wie wenig ich von dem Planeten wusste, auf dem ich lebte. Ich hatte nie die Gelegenheit gehabt, Soma richtig kennenzulernen. Dar'sal und Yyro'ha hatten mir zwar ein wenig erklärt, aber gerade soviel, dass ich hier leidlich überleben konnte. Die Ereignisse überstürzten sich, seit ich hier war. Wochenlange Gefangenschaften, den Wiederaufbau einer Stadt, die Pflege und Heilung Bedürftiger und Kranker – das war mein Lebensinhalt gewesen!
'Doch nun bin ich frei und kann gehen, wohin ich möchte!', setzte sich ein verlockender Gedanke in meinem Gehirn fest.
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