Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken
Meine Freunde kamen mir in den Sinn. Ich hatte meine Freunde verloren. Bestimmt verstanden sie nicht, warum ich drei Monate vom Erdboden verschluckt war und mich nicht mehr gemeldet hatte. Ob sie dachten, dass ich tot wäre?
Ein dicker Kloß, der sich in meinem Hals bildete, ließ sich kaum mehr herunterschlucken. Nicht weinen, nein, nicht jetzt! Ich war einsam und je mehr ich mir verbot, Tränen zu vergießen, umso größer und fester wurde der Kloß.
Ich hatte beinahe den Kampf verloren, als ein silberhelles Glöckchen ganz in der Nähe zu läuten begann.
Schnell richtete ich mich auf und horchte. Der Kloß in meinem Hals war völlig vergessen.
Wieder dieses helle Klingen!
Überall und nirgends. Ganz nah und unheimlich weit entfernt. Leise, sanft, willkommen. Es weckte und stillte gleichzeitig eine Sehnsucht und ein Verlangen in mir, das ich bis zu dem Zeitpunkt nicht in mir vermutet hätte. Ich blieb ganz still, ließ mich langsam in den Felsensessel zurücksinken, atmete flach, damit ich das nächste Klingen nicht versäumte. Es wäre nicht möglich gewesen, das sanfte Klingen zu überhören. Es ließ meinen Körper vibrieren, es ließ mein Herz schneller schlagen, noch bevor ich es mit meinen Ohren hören konnte, hatte ich es gefühlt.
Was war das? Von wem kam das?
Es war nicht nur ein Glöckchen, das ich spürte, hörte - erst eines, dann noch eines, nicht so hell wie das erste, aber genauso klar und wunderschön. Dann noch eines, das heller als das erste klang, dann wieder und wieder eines, immer in einer anderen Klangfarbe und langsam webten die Glöckchen eine Melodie, die zuerst langsam tröpfelte, wie eine kleine Quelle, die sich steigerte, immer wilder und unbändiger wurde und mich schließlich wie ein großer, reißender Fluss erreichte.
Zu mir!
Ich fühlte es, ich spürte, dass diese Glöckchen auf dem Weg zu mir waren.
Zu mir!
Sie!
Der erste Lichtstrahl des hellen Mondes bündelte sich auf einem Horn, dann noch eines, schließlich ging ein wahrer Sternenregen von widerspiegelnden, silbernen Mondstrahlen auf mich nieder. Es war eine mächtige Herde, die in einer einzigen Woge ihrer herrlich schneeweißen Körper zu mir galoppierten und die perlmutternen, glatten Hörner tanzten auf ihren Stirnen und wurden von silbernen Mähnen umspielt. Sie waren eins, wogten in einer unsterblichen Welle zu mir und das überirdisch schöne Glockenspiel, das von ihren kleinen Paarhufen ausgelöst wurde, die sanft die Erde liebkosten und kaum berührten, begleitete sie. Es schien, als seien sie direkt vom Mond auf Soma gelandet und noch immer bewegten sie sich mit der gleichen Schwerelosigkeit. Ihre Mähnen, die im Wind wehten, umspielten ihre feinen Körper und schienen von funkelnden Diamanten durchsetzt. Ihr löwenähnlicher Schweif, der hin und her schwang, bewegte sich in graziösem Gleichklang mit ihren Körpern. All ihr herrliches Wesen spiegelte ihre reine Seele wider, die Essenz dessen, was sie waren. Sie waren eins mit ihrem Inneren und strahlten es ungemildert nach außen.
Ich hielt den Atem an, hatte Angst mich zu verraten, sie zu vertreiben. Sie sollten näher kommen, ich wollte in ihren Augen versinken, den warmen Atem aus ihren Nüstern spüren, sie riechen, sie streicheln und fühlen, wie weich ihr Fell ist. Unter ihnen zu sein, sie lieben und von ihnen geliebt zu werden, einen Teil ihrer Unsterblichkeit einzuatmen – das war mein innigster Wunsch! Atemlos und langsam erhob ich mich in meinem steinernen Sessel, vorsichtig und leise. Sie näherten sich tatsächlich - langsam, stetig und unaufhaltsam. Verspielt, wie eine Welle im Meer, wogten sie vor und zurück. Ihr Ziel war, ich konnte mein Glück kaum fassen, der kleine, unendlich tiefe Teich, an dem ich saß und in den der Mond direkt hineinschien.
Die Woge der Einhörner floss um den Teich herum und langsam kamen sie zur Ruhe. Zitternde Flanken, bebende Körper, geblähte Nüstern, sie waren so nah, dass ich drei, vier, fünf hätte streicheln können, ohne meine Arme auszustrecken. Ich saß stocksteif da, verstand nicht, warum sie mich nicht witterten, nicht rochen und sofort die Flucht ergriffen. Ich atmete flach, um sie nicht doch noch zu vertreiben und ihre Anwesenheit ein kleines bisschen länger genießen zu dürfen.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin wieherten sie - es war nicht dieses hohe Wiehern eines Pferdes, gefolgt von einem erbosten Schnauben. Es war eine sanft geschwungene Melodie, getragen von dem hellen Glockenklang der stets tänzelnden Hufen, der schwingenden Löwenschwänze, der bebenden, zarten Körper. Ihre Hälse leuchteten silbern beim Atmen, ihre Körper verströmten den Duft eines warmen Frühlingsmorgens, gesättigt von den frisch erblühten Knospen der gerade erwachenden Blumen, die verschwenderisch die Geburt neuen Lebens einläuteten. Ich war wie hypnotisiert, als das gemeinschaftliche Wiehern verstummte und meine Seele vor Schmerzen schrie ob des Verlustes dieser Sehnsucht erweckenden Stimmen. Ein Einhorn nach dem anderen senkte anmutig den Kopf, trank von dem Silberwasser des Teiches, trat zurück und ließ das nächste Einhorn trinken. Als alle von dem Wasser gekostet hatten, herrschte eine unheimliche Stille und wie auf ein geheimes Zeichen hin, drehten sie ihre Hälse, drehten die Körper und fixierten mich mit großen, schwarzen, uralten Augen. Sie blickten mir direkt in die Seele und ich hörte ihre Stimmen, die Sprache der Einhörner, tief in meinem Inneren und war erfreut, dass ich sie verstand.
‚Sei willkommen in unserer Mitte.‘
Die schönsten Worte, die ich je vernommen hatte! Ihre Stimmen klangen weich und fließend, schön, alt und geheimnisvoll. Sie wussten alles. Was auf Soma mit mir geschehen war - sie wussten um mein Leid und Elend, meine Liebe und meine Hoffnungen. Nun war ich unsterblich, weil sie mein Inneres betrachtet und in ihrer Mitte aufgenommen hatten. Ich würde so lange in ihrer Erinnerung leben, wie die Einhörner existierten. Nie würden sie mich vergessen und sie lebten schon immer und würden ewig leben.
Es war ein herrliches, unsterbliches Gefühl!
Ich bewegte mich langsam und stieg von meinem Felsensessel herunter. Nun fühlte ich die Wärme der zarten Körper um mich herum. Langsam und scheu streckte ich die Hand zu dem Einhorn aus, das direkt neben mir stand. Ich blickte ihm in die Augen und bat stumm um Erlaubnis. Das Einhorn nickte und die silbernen Glocken tanzten um mich herum. Meine Fingerspitzen berührten das weiche Fell an dem bebenden Hals - es fühlte sich unbeschreiblich sanft an. Weicher als Samt, kühler als Seide, wie ein warmer, weicher Sommerregen auf nackter, junger Haut. Ich fühlte mich glücklich und hatte Angst, es wäre nur ein Traum. Doch das Einhorn blieb an der Stelle und ich blickte ihm weiterhin tief in die Augen, in eine uralte, weise und liebevolle Seele, während meine Fingerspitzen durch das samtene Fell strichen. Nach einer halben Ewigkeit ließ ich meine Hand sinken und wähnte mich im Himmel.
Jetzt kam Bewegung in die Herde, die Einhörner wichen rechts und links von mir zur Seite, sodass eine Gasse entstand. An deren Ende wartete ein großes Einhorn - noch edler und lieblicher als die anderen. Es leuchtete weiß in dem Mittsommermond, sodass mir die Augen brannten. Die silbrige Mähne wehte diamantengleich in dem leichten Wind. Es blähte die Nüstern und schritt auf mich zu, stolz und federleicht. Als es vor mir stand und wir uns in die Augen blickten, verstand ich, dass ich dem ältesten Einhorn Somas gegenüber stand. Sie hieß A'quira und hatte magische Kräfte, wie jedes Einhorn. Ihre waren voll ausgeprägt, sodass sie auf Soma als Magier viertes Grades hätte wirken können. Die Magie der Einhörner war anders als die der Somaner und anders als die meine. Sanfter, defensiver, seltener angewandt. Die größte Magie stellte ihr Erscheinungsbild dar, die Vollkommenheit, die Grazie, die Sanftheit, die jedes Lebewesen beeindruckte, milder stimmte, für kurze Zeit verzauberte!
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