»Wo bist du?«, fragte ich und lief in die Richtung, in der ich ihn vermutete.
»Hier drüben!«, kam es von der anderen Seite. »Ha, da ist es ja!« Ich drehte mich herum und beobachtete Myre, wie er hinter einem Regal mit einem Stapel loser Blätter unter dem Arm hervorstolperte.
»Schau mal, Felis. Das habe ich einem Fliegenden Händler letzte Woche abgekauft. Unglaublich welche Schätze auf Hyras Straßen unterwegs sind! Einfach wundervoll!«
Neugierig nahm ich die Seiten, die er mir freudestrahlend vor die Nase hielt, entgegen und studierte die handgeschriebenen Zeilen. Sie waren in großer Eile verfasst worden, der Autor hatte immer wieder Wörter durchgestrichen und verbessert.
»Das ist eine Abschrift«, stellte ich fest.
»Ganz richtig, es ist aber nicht irgendeine Abschrift, die du da in den Händen hältst. Es ist eine Kopie vom Weißen Schloss im Himmel!«
Myre sah mich erwartungsvoll an, doch ich hatte noch nie von einem Buch mit diesem Titel gehört.
»Das Weiße Schloss?«, wiederholte ich mit gerunzelter Stirn.
»Im Himmel. Es heißt das Weiße Schloss im Himmel. Es ist eine alte Legende über ein Königreich, hoch oben über unseren Köpfen. Im Mittelpunkt steht ein Schloss, so wunderschön und prachtvoll wie wir es uns in unseren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Ich suche schon so lange nach diesem Buch. Angeblich beschreibt es den Weg dorthin.«
»Glaubst du etwa daran?«
»Natürlich, glaube ich daran! In jeder Geschichte steckt ein Funken Wahrheit. Als mir letzte Woche das erste Mal klar wurde, was ich da in meinen Händen hielt, dachte ich: Myre, auf deine alten Tage, das kann doch nicht wahr sein! Doch die Abschrift ist unvollständig und ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Felis. Bitte erfülle einem alten Buchhändler seinen Lebenstraum und finde das Original. Meine Knochen sind zu alt für solche Abenteuer.«
»Woher hatte der Händler die Abschrift?«
»Von einem Mönch aus Inli.«
Nach langem Hin und Her gab ich schließlich nach und versprach Myre in Inli nach dem Manuskript zu suchen. Wie sollte ich auch nein sagen? Ich konnte die eindringliche Bitte meines langjährigen Freundes unmöglich abschlagen. Dieses Manuskript schien ihm viel zu bedeuten und eine Woche mehr oder weniger auf Hyras Straßen würde ich verkraften.
Myre übergab mir das Buch für die Königin und die Abschrift vom Weißen Schloss im Himmel. Ich verstaute alles in meiner Umhängetasche und verabschiedete mich.
»Ach, Felis?« Ich hatte die Türklinke schon in der Hand, als mich Myres Stimme innehalten ließ. »Ich habe noch eine Kleinigkeit für die Königin von Abnoba, ein Geschenk. Es ist ein Buch, nach dem sie schon sehr lange sucht. Letzte Woche ist es mir zufällig in einem Antiquariat in die Hände gefallen. Ich muss den Buchrücken nur noch an einer Stelle etwas leimen. Komm morgen, bevor du dich auf den Weg machst, noch einmal zu mir, dann ist es fertig und du kannst es gleich mitnehmen.«
»Mache ich«, versprach ich. »Bis morgen, Myre.«
Unruhig drehte ich mich auf die andere Seite. Ich war vor einer gefühlten Ewigkeit aufgewacht und hatte seitdem keinen Schlaf mehr gefunden. Mephisto schlummerte friedlich am Fußende und wurde bei jeder meiner Bewegungen erst hoch und dann wieder hinunter geschaukelt.
Als die ersten Sonnenstrahlen am Himmel erschienen, quälte ich mich schließlich frustriert aus dem Bett. Dabei landete die Decke schwungvoll auf Mephistos Kopf, der erschrocken erst auf den Boden und dann mit einem langen Satz auf das Fensterbrett sprang. Als ich mich auf den Weg ins Badezimmer machte, tat ich so, als würde ich die vorwurfsvollen Blicke des Katers gar nicht bemerken.
Nach meiner Morgenwäsche suchte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen und während ich packte, fiel mein Blick auf das Manuskript, das mir Myre mitgegeben hatte und ausgebreitet auf dem kleinen Sessel lag. Eigentlich hatte ich es gestern Abend durchlesen wollen, doch ich war einfach zu müde und der Gedanke an ein warmes Bett zu verlockend gewesen.
»Ein weißes Schloss im Himmel?«, wunderte ich mich und schüttelte lächelnd den Kopf, als ich die Seiten der Abschrift sortierte und in meine Tasche steckte. »Myre, Myre, wie kann ein belesener und kluger Mann wie du nur an solche Märchen glauben?«
Nachdem ich meine Jacke angezogen hatte, scheuchte ich Mephisto vor die Tür und schloss ab. Wie mit der Wirtin vereinbart, legte ich den Zimmerschlüssel auf den Türrahmen und machte mich auf den Weg.
Gähnend wanderte ich durch die Straßen der Lavendelstadt und außer Mephisto und mir war kaum jemand unterwegs; nur vereinzelt kreuzten wir den einen oder anderen Handwerker, der müde zur Arbeit stolperte.
Hoffentlich war Myre schon wach, dann könnte ich früher los als geplant und mir vor meiner Abreise in aller Ruhe noch ein Pferd besorgen. Zu Fuß müsste ich nämlich sehr zügig gehen, um Inli bis Sonnenuntergang zu erreichen und obwohl die Frühlingstage immer länger wurden, wollte ich auf keinen Fall mehr bei Einbruch der Dunkelheit draußen sein und eine zweite Begegnung mit den Angstfressern riskieren.
Als wir die Buchhandlung erreichten, fiel mir sofort der penetrante Geruch auf, der die Luft vor dem Laden verpestete. Es roch süßlich und erinnerte mich an die toten Mäuse, die der Kater manchmal nach Hause brachte und als Geschenk vor dem Fenster liegen ließ.
Mephisto, der wie immer drängelte, drückte mit seiner Pfote ungeduldig gegen die Tür und zu meiner Überraschung gab sie tatsächlich nach.
»Mephisto!«, zischte ich. »Bleib hier!« Doch mein schwarz-weißer Freund war längst im Inneren des Buchladens verschwunden.
Verwundert betrachtete ich die unverschlossene Eingangstür und bemerkte erst jetzt die Splitter, die wie kleine Zähne aus dem Rahmen herausragten. Jemand hatte sich gewaltsam Zutritt verschafft.
Alarmiert zog ich mein Schwert und als ich die Buchhandlung betrat, unterdrückte ich nur mit Mühe einen überraschten Schrei.
Drinnen bot sich ein Bild unfassbarer Verwüstung. Bücher und herausgerissene Seiten lagen überall verstreut auf dem Boden und die Regale stapelten sich wie umgestoßene Dominosteine übereinander.
Der eigenartige Gestank, den ich schon vor der Tür wahrgenommen hatte, war hier so stark, dass ich hastig den Kragen meiner Jacke über die Nase zog.
Plötzlich raschelte es. Angespannt umklammerte ich den Schaft meines Schwertes und näherte mich dem Geräusch.
Hinter einem Buchregal, das mit etwas Abstand zur Wand ganz am Ende des Raums stand, tauchte Mephisto auf. Er starrte mich eindringlich an und seine Schwanzspitze zuckte aufgeregt. Durch die leergefegten Regalbretter erkannte ich die Umrisse eines Menschen, der zusammengekauert auf dem Boden dahinter lag.
Als ich mit ausgestreckter Klinge vor der liegenden Gestalt zum Stehen kam, war das, was ich sah, wie ein unvorbereiteter Schlag in den Magen und ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
Das Schwert glitt mir aus den zitternden Händen und schlug klirrend auf dem Boden auf. Dabei hallte das Metall unerträglich laut durch den stillen Raum und Mephisto begann kläglich miauend um meine Beine zu streichen.
Ich zwang mich gleichmäßig zu atmen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte sich an dem schrecklichen Anblick jedoch nichts geändert. Ein kleiner, irrationaler Teil von mir hatte gehofft, dass der regungslose, blutverschmierte Körper, der vor mir auf dem Boden lag, einfach verschwinden würde.
»Myre …?«, presste ich geschockt hervor.
Der Buchhändler lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und der Kopf war ihm müde auf die Brust gesunken. Ein Auge war blutunterlaufen und zu einem schmalen Schlitz angeschwollen. Die gebrochenen Finger ruhten wie missgebildete Klauen auf den schmächtigen Oberschenkeln des alten Mannes.
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