Plötzlich entkam seinen blutigen, aufgeplatzten Lippen ein leises Stöhnen. Es lag so viel Schmerz darin, dass ich schluchzend neben ihm auf die Knie sank.
»Myre? Hörst du mich? Ich hole einen Arzt! Ich werde Hilfe holen!« Doch Myre reagierte nicht. »Es wird alles wieder gut«, versprach ich, obwohl ich wusste, dass nichts wieder gut werden würde.
Der Buchhändler öffnete sein unversehrtes Auge und seine Pupille wanderten orientierungslos durch den Raum.
»Du musst es finden …«, hörte ich ihn leise flüstern. »Er sucht es …«
»Was? Was soll ich finden?«
»Lauf weg … Felis … Lauf … Er ist hier …«
»Wer ist hier? Wovon sprichst du?«
»Finde das Weiße Schloss …«, hauchte Myre und das Leuchten in seinem Auge erlosch. Einfach so. Ich konnte nichts dagegen tun. Zurück blieb nur leblose, endgültige Dunkelheit.
Mit einer Hand, die so sehr bebte, dass ich sie fast nicht mehr unter Kontrolle hatte, berührte ich das noch warme Gesicht und schloss das Augenlid meines alten Freundes.
»Ich werde es finden, Myre. Ich gebe dir mein Wort, ich werde es für dich finden.«
Betäubt richtete ich mich auf, griff nach meinem Schwert und floh stolpernd aus dem verwüsteten Buchladen.
Überstürzt eilte ich zum Pferdehändler der Stadt, doch als ich die Ställe erreichte, war noch niemand da und nur die Pferde scharrten ungeduldig nach ihrer ersten Mahlzeit im trockenen Stroh.
Atemlos ließ ich mich auf einen Heuballen, der vor den Fresströgen lag, sinken. Eine fuchsfarbene Stute kam herüber und streckte ihren langen Hals neugierig zu mir hinunter, so dass ich ihren warmen Atem auf meinen Haaren spürte.
Hastig wühlte ich in meiner Tasche nach einem Zettel und Stift und kritzelte mit zittriger Schrift eine Nachricht an die Königin von Abnoba und meine Eltern darauf. Ich schrieb, dass ich auf dem Weg nach Inli war und dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Bald würde ich wieder zu Hause sein. Ich hoffte, dass es stimmte. Wenn man fest genug an etwas glaubte, ging es doch auch in Erfüllung, oder?
Ich riss ein Stück Stoff aus dem unteren Ende meines Hemdes und drehte es zu einer dünnen Schnur zusammen.
»Du musst mir einen Gefallen tun«, erklärte ich Mephisto, der mich aufmerksam beobachtete. »Bring diese Nachricht nach Hause, nach Abnoba. Bring sie meinen Eltern.«
Behutsam band ich das Papier um Mephistos Hals, der das Prozedere gutmütig über sich ergehen ließ.
Einen Augenblick später hörte ich Schritte, die sich den Ställen näherten. Als ich um die Ecke spähte, sah ich einen bärtigen, schmächtigen Mann. Mit einem Sattel auf eine Schulter gestemmt, pfiff er eine fröhliche Melodie vor sich hin. Seine Kleidung war schmutzig und übersät mit Pferdehaaren.
»Lauf!«, befahl ich Mephisto und der Kater setzte sich zögerlich in Bewegung. Seine Bernsteinaugen sahen immer wieder zweifelnd zurück, doch ich wusste, dass er mich wiederfinden würde. Ganz egal, wohin ich ging.
Der heiße Atem der Fuchsstute flog als weißer Nebelfetzen an meinem Kopf vorbei und obwohl ich bereits mit halsbrecherischen Geschwindigkeit durch Hyras Ebene preschte, hatte ich das verzweifelte Gefühl zu langsam zu sein.
Inli. Der Name der Rabenstadt erschien wie ein unheilvoller Schatten immer wieder in meinen Gedanken. Dort wartete das Buch, das Myre das Leben gekostet hatte.
Der Wind peitschte eisig in mein Gesicht und die Kälte und die Bilder, die sich für alle Ewigkeit in meine Erinnerung gebrannt hatten, trieben Tränen in meine Augen.
Wer hatte Myre so etwas angetan? Was hatte es mit diesem Weißen Schloss auf sich? Wusste Myres Mörder, dass ich die Abschrift hatte?
Nach einer Weile erreichte ich einen Fluss, auf dessen Oberfläche sich die Morgensonne in viele kleine Lichtpunkte brach. Mit zittrigen Beinen ließ ich mich aus dem Sattel gleiten und führte das Pferd zum Ufer damit es trinken konnte.
Ich ging ebenfalls auf die Knie, sammelte das Wasser in meinen Handflächen und trank gierig bis mein Magen von der Kälte schmerzte. Anschließend wusch ich mein Gesicht und beobachtete die sanfte Strömung. Sie kümmerte meine Sorgen herzlich wenig. Für sie war ein Menschenleben nicht mehr als ein kurzer, unbedeutender Augenblick.
Aus dem Fluss sah mir ein blasses, schwarzhaariges Mädchen entgegen und der Kummer in ihren goldenen Augen weckte unwillkommene Erinnerungen. Frustriert schlug ich mit der Faust in den Wasserspiegel und ritt weiter.
Mein Weg führte mich über eine Wiese junger Apfelbäume und zwischen den Baumreihen erkannte ich die große, schlanke Gestalt eines Schwarzen Soldaten; über ihm kreiste ein Rabe mit einer weißen Feder am Kopf. Ich holte den dunkel gekleideten Reisenden mühelos ein und ließ meine Stute gemächlich neben ihm herlaufen.
Als er seinen Blick hob und mich erkannte, lächelte er.
»So schnell sieht man sich also wieder«, begrüßte mich Salem.
»Du sagst es«, erwiderte ich und fragte mich insgeheim, ob er womöglich wusste, wo sich das Manuskript vom Weißen Schloss im Himmel befand. Schließlich kam er aus der Rabenstadt und lebte in dem Kloster, aus dem Myre die Abschrift hatte.
»Bist du auf dem Weg nach Inli?«, wollte der Soldat wissen.
»Ja«, antwortete ich einsilbig und obwohl ich ihm gerne mein Herz ausgeschüttet hätte, beschloss ich den Tod des alten Buchhändlers erst einmal für mich zu behalten und auf der Hut zu sein.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Salem skeptisch und mir schossen sofort verräterische Tränen in die Augen.
»Mir steckt noch der Schreck von meiner Begegnung mit den Angstfressern in den Knochen«, log ich und wich seinem fragenden Blicken aus.
»Verstehe«, meinte er und ich hörte in seiner Stimme, dass er mir nicht glaubte. Doch er beließ es dabei und lenkte unser Gespräch in eine andere Richtung. »Ich hoffe, meine Schwester hat sich bei dir bedankt.«
»Oh ja, das hat sie! Sie hat für mich gekocht und mir sogar einen Ring geschenkt.«
Lächelnd zeigte ich ihm meine Hand und der Schwarze Soldat berührte meine Finger. Ich zuckte überrascht zurück, doch Salem hielt mich unbeeindruckt fest und betrachtete neugierig den Ring. Als er ihn sah, grinste er breit.
»Was ist?«, wollte ich wissen.
»Es ist schon lange her, aber Lilli hat mir einmal etwas ganz Ähnliches geschenkt.«
Der Soldat ließ mich los, griff in seinen Hemdkragen und zog eine silberne Kette hervor. An der Kette hing ein kleiner Anhänger und ich schmunzelte, als ich eine Spirale mit einer weißen Perle erkannte.
»Wo ist eigentlich der Kater?«, fragte Salem und suchte mit seinen Augen den Boden ab, während er die Kette wieder in seinem Hemd verschwinden ließ.
»Ich habe Mephisto nach Abnoba zurückgeschickt, er muss eine Nachricht für mich überbringen.«
Der Schwarze Soldat nickte stumm und konzentrierte sich auf den krächzenden Raben über uns, während ich nachdenklich sein ernstes Gesicht betrachtete.
Es tat gut ihn wiederzusehen. Unsere Unterhaltung und seine Gegenwart lenkten mich ab und ließen mich für einen kurzen Moment die schrecklichen Ereignisse von heute Morgen vergessen. Vielleicht sollte ich ihm von meiner Suche nach dem Manuskript erzählen. Es war sicher von Vorteil einen Verbündeten in der Rabenstadt zu haben.
Allerdings kannte ich den Soldaten kaum. Woher wusste ich, dass ich ihm auch wirklich trauen konnte?
»Steig auf«, sagte ich und erschrak über die Worte, die plötzlich über meine Lippen gekommen waren.
»Was?« Salem sah mich überrascht an.
»Wir können zusammen nach Inli reiten«, stammelte ich weiter. »Zu Fuß schaffst du es niemals die Stadt vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.«
Ich rutschte im Sattel so weit wie möglich nach vorne und hielt ihm meine Hand entgegen.
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