Thorald nahm seine Tochter fest an die Hand. Das tat er immer, wenn sie sich dem Palast näherten, und er hatte gute Gründe dafür. Zügig überquerten sie den Platz vor der großen Halle und traten links davon in einen langen Säulengang, der auf die Rückseite der Halle führte. Von dort gelangten sie zu dem Raum hinter der großen Halle, durch den die Mitglieder der königlichen Familie und des Rates in die Halle einzuziehen pflegten.
Sie trafen gleichzeitig mit Seiner Exzellenz Nusair und dessen Schreiber Stiig ein. Nusair maß Thorald nur mit einem verächtlichen Blick und rauschte an ihnen vorbei in den Raum, während Stiig sich seiner Manieren besann und Thorald mit einer leichten Verbeugung die Tür aufhielt und ihm den Vortritt ließ. Er streifte Althea mit einem flüchtigen Blick, riss dann aber entsetzt die Augen auf und ließ vor Schreck die Tür los, die Meno prompt im Kreuz traf. Althea grinste und folgte ihrem Vater so schnell sie konnte. Sich hastig bei Meno entschuldigend, eilte Stiig seinem Herrn hinterher.
Meno musste einen Augenblick nach Luft ringend vor der Tür stehen bleiben. Ein Fehler, wie er sogleich feststellte, denn er wurde von der einen Person entdeckt, der er eigentlich heute nicht begegnen wollte. Brida, die Haushofmeisterin und leider seine Mutter, beobachtete ganz genau, wer in ihrem Reich kam und ging.
„Warum seid ihr so spät dran?“ Sie war eine kleine Frau mit grauen Haaren, spitzem Gesicht und harten Augen und näherte sich ihm genauso hinkend, wie er selbst stets lief. „Hat dich dieser Heide aufgehalten?“ Sie wollte ihn am Arm fassen, aber Meno packte kurz entschlossen den Griff der Tür.
„Nein, Mutter, hat er nicht, aber ich werde wirklich zu spät sein, wenn ich mich nicht beeile“, sagte er rasch und brachte eilig die Tür zwischen sie beide.
Aufatmend blieb er stehen. Hierher würde sie ihm nicht folgen. Seine Mutter hatte wahrlich ihre Augen, Ohren und Finger überall im Palast. Lediglich der Palast der Königin und die unteren Ebenen der Festung entzogen sich ihrem Zugriff. Er fand sie – der Eine Herr möge ihm verzeihen – wahrhaft schrecklich, und das hing auch damit zusammen, wie sie über seine Freunde dachte. Meno holte tief Luft, nickte grüßend in alle Richtungen und machte sich dann an sein Amt.
Sie waren wirklich als Letzte eingetroffen. König Aietan und Königin Naluri warteten mit ihren vier Kindern vor einer geschlossenen mächtigen doppelflügeligen Tür zur großen Halle. Auch Heerführer Bajan und die übrigen Ratsmitglieder waren vollzählig anwesend und in leise Gespräche vertieft. Durch die Tür war Stimmengewirr aus der großen Halle zu hören. Nusair eilte sogleich an die Seite des Königs und begann nach der Verbeugung, leise und eindringlich auf ihn einzureden.
Königin Naluri dagegen hörte auf damit, die Kleider ihrer Kinder zu ordnen, und kam ihnen entgegen. Auch Heerführer Bajan unterbrach sein Gespräch mit den anderen Ratsherren und begrüßte sie. Er warf Althea einen undurchdringlichen Blick zu, was sie jedoch nicht weiter störte. Durch die lange Freundschaft zu ihrem Vater wusste sie, dass sich hinter seinem strengen Äußeren ein warmer Charakter und viel Humor verbarg. So beantwortete sie seinen Blick mit einem Lächeln. Bajan blinzelte ihr zu, während Königin Naluri und Thorald sich mit einem leichten Nicken begrüßten. Naluri zog die Augenbrauen hoch, als sie Altheas ansichtig wurde, sagte aber nichts. Es war nicht auszumachen, was sie dachte, und sicherlich war sie bereits bestens über den neuesten Streich ihrer Nichte unterrichtet.
Als nächste begrüßten Altheas jüngere Cousinen Lelia und Leanna schüchtern ihren Onkel und ihre Cousine. Sie waren Zwillinge, und Althea ließ sich von dem braven Verhalten nicht täuschen. Besonders mit Lelia verstand sie sich überhaupt nicht, während sie mit Leanna sogar hätte befreundet sein können, wäre nicht ihre Schwester gewesen. Schadenfroh bemerkte sie, dass Lelia in ihren dünnen Seidenschuhen von einem Fuß auf den anderen trat. Der Boden war eiskalt, das wusste sie aus eigener Erfahrung, und sie war sehr dankbar für Phelans Lederschuhe. Lelias Blick schoss zwischen Althea und ihrer Mutter hin und her. Die Enttäuschung darüber, dass Altheas ungewöhnliche Erscheinung keine sofortige Strafe nach sich zog, war ihr deutlich anzusehen. Althea ignorierte ihren giftigen Blick geflissentlich.
Die beiden Brüder Currann und Phelan kamen zuletzt heran. Sie waren sichtlich ungeduldig, endlich in die Halle eingelassen zu werden, wobei Currann sich wesentlich mehr Mühe gab, dies zu verbergen.
‚Er hält sich wohl schon für zu erwachsen’, dachte Althea verächtlich und bewegte sich langsam um die Erwachsenen herum in ihre Richtung.
Phelan begann sofort, übertrieben an seiner Kleidung herumzunesteln. Mit einem kaum unterdrückten Grinsen sah er die Reaktion seines Bruders, als dieser Althea entdeckte.
Currann fielen fast die Augen aus dem Kopf. Alle Versuche, erwachsen zu wirken, waren vergessen. Er packte Althea nicht gerade sanft beim Arm und zerrte sie von den Erwachsenen fort. „Hast du es tatsächlich geschafft, an der Reitstunde teilzunehmen!“, zischte er und schoss einen eisigen Blick in Richtung seines jüngeren Bruders, der es aufgab, sein Grinsen zu verbergen.
Althea machte sich behände von ihm los und reckte frech den Kopf. „Natürlich habe ich es geschafft, und du hast die Wette verloren! Jetzt schuldest du mir einen Ritt auf deinem Hengst!“
Currann schnaubte verächtlich. „Du schaffst es nie, dich auf ihm zu halten, und fällst nur herunter. Du wirst dir wehtun!“
„Ich bin heute als Einzige nicht vom Pferd gefallen, nur damit du es weißt! Der Rittmeister hat mich sogar vor allen anderen gelobt!“ Althea konnte es nicht lassen dagegenzuhalten. Endlich einmal war sie an der Reihe.
„Das hat er nur gemacht, weil er nicht wusste, dass du ein Mädchen bist. Sonst hätte er dich gleich wieder nach Hause geschickt“, schoss Currann zurück.
„Das zeigt doch, dass Mädchen genauso gut reiten können wie Jungen, nicht wahr?“, stichelte Althea weiter.
Die Schwestern waren ihnen neugierig gefolgt und kicherten los. Lelia sagte schadenfroh: „Wenn die Gäste erfahren, dass du ein Mädchen bist, wird es ein schönes Gerede geben!“
„Pah, du sorgst dich doch nur darum, dass du mit einer solchen Cousine ausgelacht wirst“, sprang Leanna Althea hilfreich zur Seite.
Althea musste ihren Cousinen aber insgeheim recht geben. Die beiden hatten oft, obwohl sie ein Jahr jünger waren, einen weitsichtigeren Blick auf die Dinge bei Hofe als sie selbst. „Wenn wir alle Stillschweigen bewahren und ihr mich Althan nennt“, sie dankte im Stillen Yola für den Einfall, „erfahren sie es gar nicht. Einverstanden?“ Alle Geschwister nickten, wenn auch Currann erst nach einigem Zögern.
„Worum geht es heute überhaupt?“, fragte Althea, die in der ganzen Aufregung den Anlass des Empfangs vergessen hatte.
Da ertönte hinter ihr eine höhnische Stimme, die alle zusammenfahren ließ. „Dass ausgerechnet du den äußerst wichtigen Anlass für diesen Empfang nicht kennst, ist bezeichnend!“ Unvermittelt war Nusair hinter ihnen erschienen, die schmalen Augen fest auf Althea gerichtet. Unheilvoll ragte er in seiner schwarzen Kutte über ihr auf.
Sofort nahmen die Jungen die Mädchen schützend in die Mitte. So zerstritten sie manchmal waren, so sehr hielten sie alle zusammen, wenn die Gefahr von außen kam.
Naluri hob beunruhigt den Kopf, und auch Thorald wandte sich zu ihnen um, bereit, jederzeit einzugreifen. Nusair nahm diese Bewegung aus den Augenwinkeln wahr und zischte: „Was kann man schon von einem derartig verzogenen Heidenmädchen erwarten?“
Phelan sprang ihr helfend bei: „Heute Abend wird eine Gesandtschaft aus Temora erwartet und einige Vertreter des Volkes der Saraner, die mit Gilda ein Handelsabkommen schließen wollen“, sagte er schnell.
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