„Aber du hast doch gesagt, ich soll hierbleiben, bis du mich holen kommst ..“, brachte sie stattdessen kleinlaut hervor, denn den Empfang heute Abend hatte sie in der Tat völlig vergessen. Das würde ein schönes Gerede geben!
Aber Lusela hörte ihr gar nicht mehr zu, sondern zerrte sie vor sich hinschimpfend die Treppe hinunter. Als ob sie nicht selber laufen könnte, dachte Althea und beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. In der Diele des Wohntraktes warteten bereits ihr Vater und Meno auf sie. Meno konnte ein Lachen ob dieses kleinen Unholdes nicht unterdrücken.
„Was gibt’s da zu grinsen, Herr Meno!“, rief Lusela. „Nicht nur, dass wir bereits spät dran sind, was fangen wir nur mit Eurer Tochter an, Meister Thorald?“
Thorald besah sich Althea genauer, denn vorhin war er so beschäftigt gewesen, dass er sie in der Tat kaum wahrgenommen hatte. Nun konnte er die Misere durchaus verstehen. Altheas Aussehen würde bei Hofe einiges an Aufsehen erregen. Da kam ihm ein Einfall: „Lauf rasch hinauf zum Palast der Königin und hole einige von Phelans abgelegten Festtagskleidern. Wenn wir schon nicht ein braves Mädchen aus dir machen können“, sagte er zu Althea, „einen wohlgestalteten Jungen wirst du wohl abgeben. Die Gäste werden es kaum bemerken, und wie ich die Höflinge und Mönche kenne, werden sie aus Angst vor dem Gerede der Leute schweigen. Und nun komm mit mir!“, befahl er ihr streng.
Lusela riss erstaunt die Augen auf, und Meno fing lauthals an zu lachen. Nur das Mädchen schwieg und schämte sich zutiefst seines unbedachten Verhaltens, denn es erkannte erst jetzt, in was für eine Lage es ihren Vater gebracht hatte. Dies währte aber nicht lange. Thorald erhob sich rasch auf seine ganze beachtliche Länge und stieß sich dabei wieder einmal den Kopf an dem über dem Tisch hängenden Leuchter. Fluchend klemmte er sich Althea unter den Arm und verschwand mit dem quietschenden Mädchen in die Küche, wo bereits ein mit warmen Wasser gefüllter Zuber auf sie wartete.
„Und ich darf dann hinterher auch noch die Überschwemmung beseitigen!“, schimpfte Lusela und machte sich notgedrungen auf den Weg, das Gewünschte zu besorgen.
Meno lehnte sich genüsslich in seinem Sitz zurück, trank noch einen Schluck von Thoralds hervorragendem Wein und lauschte amüsiert der Schlacht, die sich in der Küche abspielte. So wie heute verbrachte er den größten Teil seiner Zeit im Archivturm des Hauses, wo er sich ein gemütliches Quartier eingerichtet hatte, oder in Thoralds Wohntrakt, denn hier fühlte er sich wahrhaft wohl. Lediglich zu den offiziellen Anlässen bei Hofe musste er sein Refugium verlassen, da er dort als Schriftführer fungierte.
Geraume Zeit später kam Althea in ein großes Tuch gewickelt und zusammen mit ihrem Vater, der mit Wasserflecken auf der Kleidung und im Bart reichlich mitgenommen aussah, wieder zum Vorschein.
„Erinnert mich daran, dass ich morgen diesen unsäglichen Leuchter höher hänge“, sagte Thorald zu Meno und rieb sich den Kopf, wo wieder einmal eine Beule am Entstehen war.
„Das habt Ihr doch die letzten zehn Jahre nicht geschafft, Meister Thorald, und Ihr schafft es auch morgen nicht“, schnaufte Lusela, die in diesem Moment wieder zur Tür hereinkam. Sie war noch ganz außer Atem von ihrem Gang, hielt aber ein paar Lederschuhe, eine Tunika aus dunkelgrünem Samt und eine wunderschöne, mit dem Wappen von Gilda bestickte Chadra in der Hand. „Hier, diese habe ich für dich bekommen.“ Sie drückte Althea die Kleidungsstücke in den Arm.
Althea seufzte innerlich. Auch die Jungen trugen die Chadra zu offiziellen Anlässen, bis sie das Erwachsenenalter erreicht hatten, allerdings war sie kürzer und wurde um die Schultern geschlagen getragen. Also würde sie doch nicht um sie herumkommen.
Lusela packte sie am Arm. „Los, Kleines, ab in deine Kammer, wir haben nicht mehr viel Zeit. Und Ihr“, sagte sie mit einem Blick auf Thorald, „zieht Euch am besten auch noch einmal um, so könnt Ihr nicht bei Hofe erscheinen.“ Schon war sie mit Althea durch die angrenzende Tür verschwunden. Thorald folgte ihr mit einem entschuldigenden Blick in Menos Richtung.
Der Wohntrakt im Hause des Wissens war sehr bescheiden. Neben der Diele, der Küche, der Vorratskammer und der daneben liegenden Kammer Luselas gab es nur einen langen Gang mit zwei Räumen für ihn und seine Tochter, von denen seiner nach hinten auf den kleinen Garten hinausging, sowie eine Gästekammer. Diese bescheidene Wohnstatt war ihm aber alle Mal lieber als die großartigen, aber intrigenverseuchten Räume des Palastes, die ihm als Schwager der Königin eigentlich zugestanden hätten.
In seiner Kammer angelangt, besah er sich den Schaden. Lusela hatte wie immer recht, er musste sich wirklich noch einmal umkleiden. Seufzend richtete er seine Ratsherrenrobe und schaute anschließend in Altheas Kammer, wo diese sich gerade bewundernd vor dem Spiegel drehte.
„So möchte ich immer aussehen“, rief sie und strahlte ihren Vater glücklich an. Ihm schmolz das Herz dahin, denn sie sah wirklich süß aus, wie ein richtiger Junge. Sogar die Haare hatte Lusela sorgfältig gekürzt.
Lusela aber verpasste ihr eine sanfte Kopfnuss. „Das wird das erste und das letzte Mal sein, dass du so aussiehst. Also wirklich, alle können dein Haar sehen! Und außerdem drehen sich Jungen nicht so vorm Spiegel hin und her!“ Sie blickte streng zu ihrem Brotgeber. „Meister Thorald, wir müssen uns heute Abend wirklich unterhalten. So kann es mit ihr nicht weitergehen.“
„Du hast ja recht, Lusela, ich habe kaum noch Zeit für sie, und sie schlägt über alle Stränge“, sagte Thorald leise zu ihr, als sie den Raum verließen und Althea vorauslief, um sich ein paar bewundernde Komplimente von Meno einzuholen. „Lass uns heute Abend, wenn der Empfang vorbei ist und wir nicht zu spät zu Hause sind, darüber sprechen.“ Er forderte Meno mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen.
Dieser zwinkerte Althea zu und streckte ihr galant den Arm hin. Althea hakte sich bei beiden Männern ein. Gemeinsam verließen sie das Haus des Wissens. Bereits auf der Straße davor gab sie die unbequeme Haltung wieder auf, war Meno doch erheblich kleiner als ihr Vater und hinkte zudem stark, ein Gebrechen, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Die Sonne stand bereits recht tief, was sie daran erinnerte, dass sie bereits spät dran waren. Eilig lief sie den Männern voraus die große Straße hinauf.
Althea hob lauschend den Kopf. Ein Brausen erfüllte die Luft, denn auf den Türmen der Festungsmauer wurden die Signalfeuer angezündet, welche spät eintreffenden Reisenden den Weg durch die Steppe wiesen. Sie wusste nur zu gut, dass man von den Festungstürmen einen großartigen Blick auf die gesamte Stadt und das umliegende Hügelland hatte. Ihr Vater war sich nicht einmal ansatzweise im Klaren darüber, in welche Bereiche der Festung sie und Phelan bereits vorgedrungen waren, die ein wahres Labyrinth an versteckten Durchgängen, Tunneln und geheimen Beobachtungsposten beherbergte. Was auch gut so war.
Althea spähte sofort, als sie das Tor durchschritten, nach rechts zum Palast der Königin hinüber, aber dort rührte sich niemand mehr. Sie waren wohl alle schon hinter der großen Halle. Stattdessen wartete am Fuß der Treppe, die zum Palast der Königin hinaufführte, eine zierliche Frau, die in kostbare, aber schlicht geschnittene Gewänder gekleidet war. Yola, die Zofe und persönliche Vertraute der Königin, erwartete sie bereits.
„Na, was haben wir denn hier für einen kleinen frechen Jungen!“ Sie blinzelte Althea zu. „Wie sollen wir dich denn nennen? Etwa Althan?“
Nachdem sie sich vor Thorald verbeugt hatte und er ihren Gruß erwidert hatte, fuhr sie weitaus ernster fort: „Ihre Majestät ist mit ihren Kindern bereits auf dem Weg in die große Halle, Meister Thorald. Eilt Euch bitte, Ihr seid spät dran!“ Noch einen Blick auf Meno werfend, der errötete und seinen Blick senkte, drehte sie sich um und eilte die Treppe hinauf, zurück in den Palast der Königin.
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