Doch sie kamen nicht mehr dazu. Als sie die Kammer der Jungen betraten, fanden sie Anwyll besorgt über Currann gebeugt. „Sein Hals schwillt immer mehr zu“, teilte er Bajan mit, der unruhig auf ein Wort von ihm wartete. „Hört, er bekommt kaum noch Luft. Wenn es nicht umgehend besser wird, muss ich die Luftröhre öffnen.“
„Ihr wollt Currann den Hals aufschneiden?“ Bajan war entsetzt.
Der alte Priester legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Keine Angst, es ist nur ein kleiner Schnitt, sodass er an der Schwellung vorbei Luft holen kann. Wir haben Erfahrung darin, vertraut mir! Aber lasst mich zuerst den Hals kühlen, vielleicht geht die Schwellung noch von selbst zurück.“
Er blieb bei den Jungen, während die Männer zu packen begannen. Doch schon bald zeichnete sich ab, dass es Currann immer schlechter ging. Anwyll ließ heißes Wasser vorbereiten, einer der Männer brachte ihm ein im Feuer erhitztes Messer.
Schon fand sich Bajan in der gleichen Lage wieder, die er am Tag zuvor Roar hatte durchmachen sehen. Er hielt Currann im Arm und bog seinen Kopf weit nach hinten, während Anwyll vorsichtig den geschwollenen Hals abtastete. Mit einem raschen Schnitt hatte er die Luftröhre des Jungen geöffnet und steckte ein kleines Röhrchen hinein. Pfeifend strömte die Luft hindurch. Currann begann sogleich zu husten und atmete bald wieder tief und ruhig. Bajan hielt ihn fest, während Anwyll den Hals und das Röhrchen mit einer dicken Lage aus Verbänden stabilisierte. Als Currann kurze Zeit später die Augen aufschlug, durchströmte Bajan tiefe Erleichterung.
Currann wusste zunächst nicht, wo er war, spürte aber sofort den scharfen Schmerz am Hals. Er wollte mit seiner Hand dorthin fassen, doch Bajan packte sie mit festem Griff. „Nein, nicht berühren“, sagte er mit rauer Stimme. Curranns Augen weiteten sich, als er die Männer um sich herum erkannte. Er versuchte etwas zu sagen, scheiterte aber. Bajan drückte ihm beruhigend die Schulter. „Keine Sorge, das wird schon wieder.“ Vorsichtig bettete er den Jungen bequemer hin und deckte ihn zu.
Anwyll gab Currann einen schmerzstillenden Tee zu trinken. „Du darfst deinen Hals nicht berühren, verstanden?“ Currann konnte nicht nicken, senkte aber bestätigend die Augenlider. Neben ihm schlief Jeldrik tief und fest. Sicherheitshalber richtete sich der alte Priester ein Lager her, er wollte die restliche Nacht bei den Jungen wachen. So blieb für Bajan nichts mehr zu tun. Er trat zu den Männern ans Feuer, die ihm ungeduldig entgegensahen.
„Er atmet wieder!“ Roar schlug ihm erleichtert auf die Schulter und drückte ihm einen Becher Wein in die Hand, während die Männer ihrer Erleichterung lautstark Luft machten. Zum ersten Mal seit vielen Stunden fühlte sich Bajan wieder etwas erleichtert, aber die bleierne Last, seine Pflicht gegenüber der Königin nicht erfüllt zu haben, blieb.
Anwyll hob einen Becher mit geweihtem Wasser und das Schwert des Toten der aufgehenden Sonne entgegen. Die Männer hatten sich in einem weiten Kreis um die aus Holz gestapelte Totenbahre ihres Kameraden versammelt. Nebelschwaden waberten durch das Delta und verliehen dem Ritual einen passenden Rahmen.
Die Männer Roars zogen ihre Schwerter und hielten sie von sich gestreckt. Anwyll begann den Totenritus. Im Sprechgesang schritt er die vier Himmelsrichtungen um die Bahre ab, während die Männer mit ihren Schwertern seiner Richtung folgten, an den festgelegten Stellen auf den Gesang antworteten und so ihrem Kameraden die letzte Ehre erwiesen.
Stumm und beeindruckt hörten die Männer Bajans zu. Man hatte ihnen erklärt, dass der Tote den vier Elementen Himmel, Erde, Feuer und Wasser überantwortet werden würde, bevor man ihn verbrannte. Dies war ungewohnt für sie, denn die Toten Gildas wurden stets einbalsamiert und beerdigt.
Als Anwyll seinen Gesang beendet hatte, knieten die Männer nieder und stützten sich auf ihre Schwerter. Die Soldaten Gildas folgten ihrem Beispiel. Nachdem Anwyll mit einer Fackel die Bahre in Brand gesetzt hatte, übergab er das Schwert des Toten an Roar, damit dieser es an die nächsten Verwandten des Mannes überbringen konnte. Stumm beobachteten sie, wie die Bahre langsam niederbrannte.
Nach einer angemessenen Zeit erhob sich Roar und gab den Befehl zum Aufbruch. Bajan verließ mit ihm als Letzter die Stätte. „Wie gut, dass die Mönche auf der anderen Seite des Klosters ihre eigene Bestattung abhalten. Dass meine Männer an diesem Ritus teilnehmen, hätte zusätzliches Öl ins Feuer gegossen.“
„Die Ereignisse haben ein Band zwischen ihnen geschmiedet, das die Mönche nicht mehr so einfach zerschneiden können, glaubt mir, mein Freund.“ Roar dankte ihm mit einem Schlag auf die Schulter und ließ ihn allein. Sinnierend starrte Bajan auf den Rauch. Es stimmte. Diese schwerwiegenden Ereignisse hatten sie zu Freunden werden lassen.
Statt gleich zu den Pferden, schritt Roar zu den Wagen. Im Vordersten schliefen die Jungen, gebettet auf eine dicke Lage aus Decken und Fellen, welche die Männer gestiftet hatten, damit sie nicht zu sehr durchgerüttelt wurden. Ein Soldat saß bei ihnen, zwei weitere standen davor und dahinter Wache.
„Wie geht es ihnen?“, fragte Roar den Mann im Wagen auf Saranisch.
„Sie schlafen tief und fest. Dein Sohn hat bis jetzt kein Fieber bekommen.“ Besorgt betrachtete Roar das blasse Gesicht seines Jungen. Der Schnitt auf seiner Wange zeichnete sich deutlich ab. Er würde für sein Leben gekennzeichnet sein, das war Roar bewusst. Mochten die Götter wissen, was daraus erwachsen würde. Schweren Herzens riss er sich von Jeldriks Anblick los, dankte dem Mann und begab sich zu seinem Pferd.
Auch die Mönche waren mittlerweile zurückgekehrt und auf ihren Wagen geklettert. Missmutig zogen sie die Planen vor und rührten sich nicht mehr.
Bajan ritt unterdessen seinen Kundschaftern entgegen. „Habt Ihr den Mann gesichtet?“
„Nein, Fürst, im weiten Umkreis ist niemand zu entdecken. Es führen auch keine Hufspuren vom Kloster weg, sein Pferd ist ja noch da“, erstattete der Hauptmann Bericht.
„Habt Ihr den Sumpf abgesucht?“, fragte Bajan.
„Wir können ihn nicht betreten, die Oberfläche ist nicht sicher, Fürst. Aber alles, was in Sichtweite ist, haben wir abgesucht, ohne Ergebnis. Der Mann ist verschwunden.“
Bajan vertraute seinem Urteil völlig, es war sein bester Mann. Nachdenklich ritt er an Roars Seite. „Sie haben nichts gefunden.“
Roar verzog finster das Gesicht: „Ihr denkt, er wurde beseitigt und im Sumpf versenkt, nicht wahr?“ Bajan nickte grimmig. Unverrichteter Dinge brachen sie auf.
Gegen Mittag waren sie an der Steigung angekommen. Roar nahm seinen Sohn behutsam vor sich aufs Pferd, während Currann, der inzwischen wieder aufgewacht war, darauf bestand, selbst zu reiten. Alles war besser als dieser rüttelnde, unbequeme Wagen. Die Mönche mussten laufen, bewacht von den Soldaten.
Als der Abend hereinbrach, hatten sie die Steigung ohne weitere Zwischenfälle hinter sich gebracht. Die Männer atmeten auf, nur allzu froh, der bedrückenden Atmosphäre des Deltas entkommen zu sein.
Jeldrik bekam davon nichts mit. Er schlief nach wie vor, war den ganzen Tag noch nicht aufgewacht, auch nicht, als sein Vater ihn vor sich in auf das Pferd gesetzt hatte.
Bajans Mann war nicht, wie sie vermuteten, tot, sondern er lag bewusstlos unweit des Klosters hinter einem umgekippten Baum auf dem Schlamm. Doch jetzt kam er langsam wieder zu sich. Als Erstes fühlte er, dass ihm kalt war, eisig kalt. Dann merkte er, dass er im Dunkeln lag. Er versuchte sich aufzusetzen, sank aber bei der Bewegung tief ein. Noch völlig benommen versuchte er zu begreifen, wo er war. Doch dann wurde sein Blick von etwas angezogen, und er sah, wie sich die Lichter auf dem Berg erhoben und die Flanken herunterströmten. Da fiel ihm alles wieder ein. Die Lichter! Die Schlammflut!
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