Nachdem dies erledigt war, machte sich Bajan voller unruhiger Gedanken auf zu dem Gefangenen. Seiner Meinung nach blieb nur eine Gruppe übrig, aus welcher der Verräter stammen konnte. Aber wer war es?
Schon von Weitem hörte er das Geheul des Wahnsinnigen. Bedrückt standen die Mönche vor der Tür und lauschten den unheimlichen Geräuschen.
Stiig sah Bajan kommen und erstatte ihm geflissentlich Bericht. „Wir können ihn nicht erreichen, weder durch Gebete noch durch gutes Zureden. Seine Worte sind unverständlich, wir hören nur so etwas wie ‚verstecken’ und ‚unsichtbar’ heraus. Das gibt alles keinen Sinn. Er ist vollkommen wahnsinnig. Aber seht selbst.“ Bajan blickte durch die vergitterte Öffnung in der Tür. Notdürftig wurde der Raum von den außen angebrachten Fackeln erhellt.
Er konnte erkennen, wie der Mann sich auf seinem Lager hin und her warf. Schaum klebte vor seinem Mund, stetig schlug er mit seinem Kopf an die Wand, die von seinen Wunden bereits ganz blutig war.
„Und Ihr seid sicher, dass dies Abt Dotan ist?“, fragte Bajan ungläubig.
„Wir sind uns absolut sicher, schließlich waren die Brüder und ich einige Jahre unter ihm hier im Dienst des Herrn. Wir müssen ihm helfen, er verletzt sich! Lasst uns die Tür öffnen und sehen, was die Macht des Herrn bewirken kann!“ Stiigs Augen begannen, fiebrig zu glänzen.
Bajan wurde in diesem Moment klar, was diesen Mann zu einem solch erfolgreichen Missionar gemacht hatte. Aber er widerstand seiner Überredungskunst. „Auf keinen Fall werdet Ihr die Tür alleine öffnen. Das ist ein Befehl! Ihr habt gesehen, was er anrichten kann, dabei waren die Jungen bewaffnet und durchaus in der Lage, sich zu wehren. Nicht auszudenken, was mit Euch geschehen würde! Nein, das will ich nicht verantworten. Auch meine Männer werden sich heute nicht mehr der Gefahr aussetzen. Das ist mein letztes Wort!“, erwiderte er knapp und stapfte wütend davon.
Die Brüder blieben sprachlos zurück. Stiig schlug das Zeichen Urians. „Der Eine Herr sei Abt Dotan gnädig, es sieht so aus, als könnten wir ihm nicht helfen. Brüder, betet, dass Bruder Abt morgen zur Besinnung gekommen ist.“ Inbrünstig stimmten sie ein Gebet an. Als sie geendet hatten, nahm die Wache vor der Tür Aufstellung, und sie begaben sich in ihr Nachtlager.
Spät in der Nacht herrschte Ruhe über dem Kloster. Die Fackeln waren erloschen, und auch das Feuer glimmte nur noch, als ein Mann heimlich zu der Zelle des Gefangenen schlich. Er trug einen Umhang, dessen Kapuze das Gesicht und die Kleidung vollkommen verdeckte. Unbemerkt verbarg er sich hinter einem Mauervorsprung und beobachtete den Soldaten, der vor der Tür Wache hielt. Vorsichtig schlich er sich näher heran und ging hinter einer Säule in Deckung. Er zog ein kleines Röhrchen lautlos aus seinem Beutel, setzte es an die Lippen und blies kräftig hinein.
Einen Wimpernschlag später schlug sich der Soldat mit der flachen Hand an den Hals und wischte eine vermeintliche Mücke beiseite. Er schaute noch verwundert auf seine Hand, denn eigentlich war es zu spät im Jahr für Mücken. Dann erspähte er den Schatten hinter der Säule und zog sein Schwert, doch es war zu spät: Ein plötzlicher Schwindel erfasste ihn, er begann zu taumeln. Der Soldat ließ sein Schwert fallen, wankte einige Schritte auf den Schatten zu, um schließlich vor der Säule zusammenzubrechen. Genauso lautlos, wie er gekommen war, packte der Schatten den Soldaten und zog ihn außer Sichtweite.
Kurze Zeit später näherte sich eine ähnlich gewandete Gestalt vorsichtig der Zelle des Gefangenen. Der Mann schaute sich nach allen Seiten um, konnte aber keinen Wachsoldaten entdecken. Dafür fiel sein Blick auf das Schwert auf dem Boden. Verwundert hob er es auf und näherte sich der Tür. Mit einem Blick durch die Türöffnung vergewisserte er sich, dass der Gefangene schlief. Lautlos zog er den Riegel der Tür beiseite und betrat die Zelle.
Vorsichtig beugte er sich über den Gefangenen. Er schien tatsächlich fest zu schlafen. Rasch zog er eine kleine Flasche aus der Tasche des Umhangs und entkorkte sie. Doch dann zuckte er erschrocken zurück. Plötzlich offen starrten ihn die Augen des Wahnsinnigen an.
In Panik wich der Mann zur Tür zurück. Er öffnete den Mund, um Hilfe zu rufen, aber der Gefangene war schneller. Mit einem Knurren griff er sich das Schwert und schnitt seinem nächtlichen Besucher mit einem Streich die Kehle durch. Der Gefangene gab ein leises, irres Lachen von sich, als er ihn zusammenbrechen sah. Er zog ihm den Umhang aus, legte ihn sich um und verließ die Zelle.
Currann wurde von unruhigen Träumen geplagt. Wieder und wieder wurden Jeldrik und er angegriffen, aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Schweißgebadet wachte er auf, sein Kopf hämmerte, als wenn er zerspringen wollte. Zuerst wusste er nicht, wo er sich befand, und versuchte verzweifelt, sich im durch das Fenster einfallende Mondlicht zu orientieren. Doch dann kamen die Erinnerungen schlagartig zurück.
Stöhnend vor Übelkeit lehnte er sich auf seinem Lager zurück. Er schloss die Augen und atmete tief durch, um ihrer Herr zu werden. Es gelang ihm unter Aufbietung aller Kräfte. Langsam wurde er ruhiger, er konnte wieder die Augen öffnen, ohne dass ihm schwindelig wurde.
Dankbar fiel sein Blick auf einen Becher Wasser, den ihm jemand auf den Tisch neben der Liege gestellt hatte. Er trank einen Schluck und entdeckte dabei sein Messer, das dieser Jemand ihm dazugelegt haben musste.
Er wollte es gerade an seinen gewohnten Platz zurückstecken, als ein Geräusch vor der Tür ihn innehalten ließ. Täuschte er sich, oder wurde dort ein Schwert aus der Scheide gezogen? Das Geräusch war unverkennbar. Beunruhigt schwang er seine Beine von der Liege und stand lautlos auf. Plötzlich hörte er außen einen leisen, dumpfen Schlag gegen die Tür. Erschrocken sprang er zurück. Er hörte jemanden aufstöhnen und duckte sich. Langsam ging die Tür auf. Eine Gestalt, die davor auf dem Boden saß, kippte rückwärts in die Kammer. Entsetzt sah er, dass es ein Soldat war, der Rüstung nach zu urteilen, einer von Roars Männern. Fest umklammerte Currann sein Messer, als eine dunkle Gestalt über dem Soldaten in der Tür erschien. Selbst im Mondlicht konnte er erkennen, dass das Schwert, das sie in der Hand hielt, blutgetränkt war. Es glänzte schwarz.
Dies alles sah Currann im Augenblick eines Wimpernschlages. Es ging alles so schnell. Ihm entfuhr ein krächzender Aufschrei. Die Gestalt holte mit dem Schwert aus, wurde aber von der Türöffnung und dem unter ihr liegenden Soldaten behindert. Dies rettete Currann das Leben. Mit einem Sprung war er auf der anderen Seite der Liege, während sein Angreifer dort, wo er noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte, mit dem Schwert den Tisch zertrümmerte und dabei seine Waffe verlor.
Der Mann war nun deutlich im Mondlicht zu erkennen. In Panik erkannte Currann, dass es der Irre war, der Jeldrik so schwer verletzt hatte. Er hatte jedoch keine Zeit mehr, um Hilfe zu rufen, denn der Mann warf die Liege um und war mit einem Satz bei ihm. Mit einem irren Lachen packte er ihn an der Kehle und drückte zu.
Verzweifelt versuchte Currann, sich dem Mann zu entwinden, aber dessen wahnsinniger Griff war viel zu stark für ihn. Ihm blieb die Luft weg, seine Kräfte schwanden. Doch da spürte er einen Gegenstand in seiner rechten Hand. Mit allerletzter Kraft hob er sie und stieß zu. Dann wurde es schwarz um ihn.
Die Soldaten wurden von einem Schrei und einem lauten Krachen geweckt. Sofort waren alle in Alarmbereitschaft, aber die Ursache des Geräusches war zunächst unklar. Bajan wollte gerade die Männer verteilen, aber da ertönte der Wutschrei eines Soldaten, der seinen Kameraden in der Tür von Curranns Kammer entdeckt hatte. Bajan stürmte alarmiert herbei. Der Soldat war tot, jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Im Raum selbst war nichts zu erkennen außer dunklen Schatten.
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