Currann starrte mit schreckgeweiteten Augen hinaus. Niemand hatte ihn auf einen solchen Anblick vorbereitet. Stiig schluckte hörbar, als er die Höhe der Schlammmassen schätzte. „Das müssen mehr als drei Mannhöhen sein“, sagte er mit brüchiger Stimme.
Bajan warf ihm einen kurzen Blick zu. „Der Tross wird morgen früh umgehend aufbrechen, damit wir möglichst schnell höheres Gelände erreichen. Packt zusammen, was Ihr als wichtig erachtet.“ Kein Widerspruch regte sich in den Mönchen, so verstört waren sie.
Roar blickte ihnen hinterher, als sie die Mauer verließen. „Was ich nicht verstehe, wie bei den Göttern ist der Abt noch in der Lage gewesen, eine Botschaft nach Gilda zu senden? Ich sage Euch, hier stimmt etwas entschieden nicht!“
„Mir kommt diese Tatsache ebenfalls merkwürdig vor“, ließ sich die keuchende Stimme von Anwyll hinter ihnen vernehmen, der es mit Hilfe von Jeldrik endlich geschafft hatte, die Mauer zu erklimmen. Die Reise und insbesondere der kalte, feuchte Nebel hatten ihm mehr zugesetzt, als er zugeben wollte. Fassungslos traten sie an die Mauer.
„Wir sollten Augen und Ohren offen halten und täten gut daran, möglichst schnell von hier zu verschwinden!“ Roar betrachtete besorgt die Männer im Hof, die sich bedrückt niedergelassen hatten, während die Mönche eilig alles einpackten, was sie für rettenswert hielten. Er klopfte seinen Sohn auf die Schulter, der noch immer auf den grausigen Anblick starrte, und gemeinsam verließen sie die Mauer.
Bajan ordnete doppelte Wachposten an, eine Partie auf der Mauer, eine vor dem Kloster. Die Jungen wies er an, die Nacht in einem festen Raum im Kloster zu verbringen.
Nun blieb nichts mehr zu tun. „Vater, dürfen wir uns, bis es dunkelt, noch etwas vor den Klostermauern umsehen?“ Jeldrik war langweilig geworden.
„Ihr bleibt aber in Sichtweite der Mauer und innerhalb des Wachpostenrings“, gab Roar sein Einverständnis. Jeldrik zog Currann schnell mit sich, bevor dieser noch protestieren konnte.
„Wo willst du denn hin?“, fragte er ungeduldig. Er war müde und niedergeschlagen und hätte sich lieber auf sein Lager begeben, das war Jeldrik von vorneherein klar gewesen, und so zerrte er ihn mit sich, ohne eine Antwort zu geben.
Sie liefen rasch um die Klostermauer herum und durch den Klostergarten hindurch, in dem noch die Ackergeräte herumlagen, bis sie schließlich auf der dem Delta zugewandten Seite angelangt waren. Trotz des grausigen Anblicks und des muffigen Geruchs, der von den Schlammmassen aufstieg, war dieser Ort bestens geeignet für das, was Jeldrik vorhatte. Der Wehrgang der Mauer hatte an dieser Seite einen leichten Überhang, sodass es am Fuße der Mauer einigermaßen trocken war. Jeldrik ließ sich dort nieder. Currann setzte sich neugierig neben ihn und beobachtete gespannt, wie er triumphierend ein Päckchen aus seiner Tasche zog. Als er es auswickelte, kamen eine Pfeife, Tabak, zwei Schlagsteine und Zunder zum Vorschein.
„Wo hast du denn das her?“ Currann war begeistert. Seine Müdigkeit war sofort vergessen.
„Einer der Männer muss es unterwegs verloren haben, es lag auf dem Weg. Los, lass es uns ausprobieren!“ Jeldrik warf einen prüfenden Blick die Mauer hoch. Und richtig, oben beugte sich der Kopf einer Wache neugierig zu ihnen hinunter. Als der Wachposten sah, was sie vorhatten, grinste er nur in seinen Bart und entfernte sich demonstrativ von ihnen.
„Glück gehabt!“, atmete Jeldrik auf und hielt Currann die Pfeife hin. Es war einer der Männer gewesen, die sie im Schwertkampf unterrichtet hatten.
Currann mühte sich unterdessen mit den Schlagsteinen ab. Zu schade, dass er seine zu Hause vergessen hatte, mit denen hätte er die Pfeife im Nu angehabt. Doch schließlich war die Pfeife entzündet und Jeldrik nahm prüfend einen leichten Zug, wie er es die Männer hatte tun sehen.
Augenblicklich brach er in wildes Husten aus und reichte die Pfeife schnell an Currann weiter. „Uähh, das ist ja scheußlich!“, würgte er hervor. Gewarnt durch das Ergehen seines Freundes war Currann noch vorsichtiger, aber auch er begann zu husten.
Dann brachen sie in wildes Gelächter aus. „Na los, es ist doch zu schade, sie nicht aufzurauchen!“ Jeldrik nahm die Pfeife wieder an sich. Tapfer nahm er den nächsten Zug, immer mit einem halben Blick auf die Sonne, die sich über dem Delta langsam dem Horizont näherte.
Gerade reichte Jeldrik die Pfeife an Currann zurück, als er merkte, wie dieser sich plötzlich versteifte. Sachte senkte Currann die Hand auf sein Schwert, denn er hatte in den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen, einen dunklen Schatten, der sich auf sie zubewegte.
Jeldrik fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Alle Geräusche um sie herum waren plötzlich verstummt. Ganz vorsichtig beugte er sich vor und drehte den Kopf, um einen Blick an Currann vorbei erhaschen zu können.
Alarmiert sprangen sie auf und zogen gleichzeitig ihre Schwerter. Beide Jungen nahmen umgehend eine Verteidigungshaltung ein, keinen Moment zu früh. Ein verwahrloster Mann kam brüllend auf sie zu, blutunterlaufene Augen blitzen sie unter verfilzten Haaren an. Mit einer großen Sense in der Hand stürzte er sich auf die Jungen und ließ sie in tödlichem Schwung auf sie herunterzischen. Jeldrik warf sich mit einem Schrei zur Seite und sah noch, wie Currann zu Boden ging, die Sense aber mit seinem Schwert ablenken konnte.
Die Gestalt hieb wie rasend auf seinen Freund ein, während Jeldrik sich mühsam aus dem Gras aufrappelte. Sein Schwert lag ein paar Schritte weiter, aber er hatte keine Zeit, es zu holen, denn Currann warf sich verzweifelt auf dem Boden hin und her, um den Streichen des Wahnsinnigen zu entkommen. Dreck spritzte überall dort auf, wo sich die Sense knapp neben ihm in die Erde bohrte. Jeldrik überlegte nicht, er handelte. Todesmutig warf er sich auf den Rücken des Angreifers, um ihn von den Füßen zu reißen. Doch der Mann hatte ungeahnte Kräfte. Mühelos hielt er dem Schwung des Jungen stand, aber zumindest eines erreichte Jeldrik: Er wirbelte herum und ließ von seinem Freund ab.
Currann war so hart aufgeschlagen, dass er nur wie durch einen Nebel hindurch die Alarmschreie der Wachen hörte. ‚Oh bitte, macht schnell!', dachte er verzweifelt und versuchte, wieder einen klaren Blick zu bekommen. Der Irre trachtete danach, Jeldrik von seinem Rücken zu werfen, aber dieser klammerte sich mit aller Kraft seiner Verzweiflung an ihm fest. Doch da senkte der Irre seine Zähne in Jeldriks Hand, der mit einem Schmerzensschrei seine Umklammerung lockern musste.
Augenblicklich wurde er von dem harten Griff des Mannes gepackt und durch die Luft geschleudert. Unsanft landete er auf dem Boden, rollte sich ab und richtete sich wieder halb auf. Doch der Angreifer war schon über ihm und ließ die Sense in tödlichem Schwung auf ihn niederfahren. Zu spät versuchte Jeldrik, sich zur Seite zu werfen, hob noch abwehrend die Hand. Er sah die Sense vor sich aufblitzen, ein ungeheurer Schmerz durchfuhr ihn, er schrie auf und sackte bewusstlos zusammen.
Currann sah, wie sein Freund durch die Luft geschleudert wurde, und packte sein Schwert. Mühsam kam er auf die Füße und stolperte zu dem Wahnsinnigen, der gerade die Sense auf Jeldrik niedersausen ließ. Er hörte den gequälten Schrei seines Freundes. Mit allerletzter Kraft hieb er ihrem Angreifer das Schwert in die Kniekehlen. Er traf nicht richtig, aber es reichte, dass der Angreifer zusammenbrach. Rasch ergriff Currann die Sense und warf das schwere Gerät außer Reichweite. Von hinten sah er die Männer um die Ecke hasten, allen voran Roar, den der Schrei seines Sohnes zu höchster Eile antrieb. Currann wurde schwindelig vor Erleichterung. Er fiel auf den Rücken und blieb keuchend liegen.
Roar griff eine eisige Hand ums Herz, als er seinen Sohn regungslos auf dem Boden liegen sah. Currann brach gerade zusammen, aber der Mann neben ihm begann, sich wieder zu rühren und auf die Jungen zuzukriechen. Mit einem wütenden Schrei sprang Roar heran und trat dem Mann unter die Kehle, sodass dieser in hohem Bogen zurückgeworfen wurde und sich nicht mehr rührte.
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