Königin Naluri beobachtete heimlich unter ihrem Schleier heraus, wie Althea fleißig mit den anderen Frauen im Garten arbeitete. Alles wendet sich zum Guten, dachte sie erleichtert. Die ehrwürdige Mutter hatte ihr gestern berichtet, dass Althea sehr lernbegierig und nicht ein einziges Mal unangenehm aufgefallen war. Ein kleiner Wehmutstropfen blieb allerdings: Mit leiser Trauer hatte Naluri erfahren, dass Althea keine Gelegenheit ausließ, etwas über ihre Mutter zu erfahren. Dazu hatte sie und vor allem Thorald aus guten Gründen immer geschwiegen.
Rasch schob sie diese unangenehmen Gedanken von sich und dachte an ihren jüngeren Sohn. Auch Phelan wirkte seit gestern wieder glücklicher und ausgeglichener, dachte sie erleichtert. Sie hatte sich bereits ernstlich Sorgen um ihn gemacht, so blass und still war er die letzten Wochen gewesen. Aber sie war in dem ganzen Trubel um Althea nicht in der Lage gewesen, an ihn heranzukommen. Nun kam er jeden Abend lebhaft aufgekratzt von der Heerschule heim, vertilgte wahre Berge an Essen und schlief derart viel, dass es erstaunlich war. Sie erkannte ihren jüngeren Sohn nicht wieder.
Eine drückende Last blieb ihr jedoch, denn sie hatte noch nichts von der Expedition gehört. Voller Sorge fragte sie sich in schlaflosen Nächten, ob Currann wohlauf war. Schreckliche Bilder von Unfällen und anderen Katastrophen drehten sich in ihrem Kopf. Sie traute Alia und ihrem Klüngel alles zu. Zum Glück aber wachte Bajan wie stets über ihn, es würde schon alles gut gehen, beruhigte sie sich. Schweren Herzens machte sie sich auf zum Sterbehospiz, um ihren Dienst bei den alten Menschen zu leisten.
Am nächsten Herrentag war Althea schon früh auf den Beinen. Heimlich stibitzte sie Lusela ein großes Wollknäuel und machte sich auf den Weg in die geheime Kammer. Sie war nicht überrascht, dass Phelan bereits auf sie wartete. Er schwenkte einen Beutel. „Ich habe etwas zu essen mitgebracht, dann brauchen wir zwischendrin nicht aufzuhören. Hast du dich bei Lusela zum Essen abgemeldet?“
Althea winkte ab und spähte vorsichtig in den Beutel. Wie sie die Köchin kannte, hatte sie Phelan bestimmt etwas Leckeres eingepackt. Und richtig, sie entdeckte frische gefüllte Fladen, ein paar Pasteten und Äpfel. Außerdem hatte Phelan seine Feldflasche eingepackt.
Wieder banden sie das Seil zwischen sich fest, aber diesmal nahm Phelan neben seinem eigenen noch ein Übungsschwert mit. Althea, die mit ihrem Besen schon genug zu tragen hatte, wollte schon protestieren, ließ es dann aber bleiben, denn Phelan hatte mit Sicherheit etwas Bestimmtes damit im Sinn.
Kaum hatten sie die Tür hinter sich gelassen, klemmte er das zweite Schwert auch schon in eine Felsspalte. „Hier gibt es nichts, wo wir den Faden richtig festbinden könnten“, erklärte er Althea und band das lose Ende des Wollknäuels um den Schwertknauf. „Sicher ist sicher“, sagte er und überprüfte die Festigkeit des Knotens.
Langsam kämpften sie sich durch die Spinnweben, bis sie schließlich vor einer Abzweigung ankamen. Links von ihnen verschwand der Gang in einem Loch im Boden, rechts führte eine grobe, in den Fels gehauene Wendeltreppe nach oben. Es war kalt hier, kälter als auf der anderen Seite.
„Das muss das Gegenstück zu Mutters Gang sein.“ Phelans Echo rollte unheimlich hin und her. „Was meinst du, Thea, Stadt oder Festung?“
„Die Festung natürlich, die Stadt kann warten“, entschied Althea. Kurz entschlossen marschierte sie die Treppe hinauf. Phelan leuchtete ihr.
Die Treppe wand sich in unheimlich vielen Windungen durch den Fels. Ihre Stufen waren alt und ausgetreten, sie mussten aufpassen, dass sie nicht stürzten. Nach einiger Zeit, Phelan schätzte etwa, dass sie die Hälfte der Strecke bis oben zurückgelegt hatten, knirschte es plötzlich unter Altheas Füßen.
„He, wo kommt denn der Sand her? Hier muss es irgendwo eine Öffnung nach draußen geben“, rief Phelan und schob sich an ihr vorbei. Er beschleunigte seine Schritte und behielt recht. Kurze Zeit später kamen sie an eine Abzweigung. Fahles Tageslicht ließ sie einen lang gestreckten Gang erkennen, dessen Ende wieder im Dunkeln verschwand. Überall waren kleine Sandhaufen zusammengeweht, sodass es aussah wie in einer Wüste.
Neugierig schauten sie nach, wo das Licht herkam. Gleich darauf standen sie in einer kleinen Höhle, die nach außen hin einen schmalen Durchgang hatte. Dieser erweiterte sich an der Decke zu einem breiten Fenster. Staunend bemerkten die beiden eine aus dem Felsen herausgearbeitete, breite Schlafstätte und einen Fackelhalter an der Wand. Alles war fast unter dem über die vielen Jahre hereingewehten Sand begraben, sodass sie sich regelrecht zur Öffnung vorarbeiten mussten.
„Was meinst du, wer hier wohl mal gewohnt hat?“, fragte Althea und zwängte sich durch die Öffnung nach draußen. Eine lange Sandfontäne rieselte nach unten und wehte mit dem Wind davon.
Phelan wollte die Fackel in den Halter stecken, doch dieser zerbröckelte unter dem Gewicht. „Oh, der ist alt.“ Es gelang ihm noch, die Fackel aufzufangen, bevor sie in den Sand fiel und ausging.
Aber Althea hörte ihn nicht mehr. Als er hinter ihr herdrängte, fuhr er überrascht zurück. Vor ihnen öffnete sich ein Abgrund, der ihnen einen freien Blick bis auf den Fuß des Tafelberges erlaubte. Links von ihnen, etwas weiter vorne, begann die äußere Stadtmauer, doch hier hatten sie nur die Steppe vor sich.
Althea lehnte sich immer weiter vor und ließ sich den Wind um die Nase wehen. „Das ist toll!“, rief sie begeistert. Mit einer Hand hielt sie sich an einem Felsvorsprung fest.
„Sei bloß vorsichtig!“ Phelan hatte schon immer etwas Höhenangst gehabt. Er packte sie an der Schulter und zog sie vom Abgrund fort. Wie zur Bestätigung ertönte über ihnen ein hoher Schrei. Gleich darauf ließ sich eine Falkenmutter in ihrem Felsennest nieder und beäugte die beiden misstrauisch, bevor sie mit der Fütterung ihrer Jungen begann.
Phelan beugte sich heraus und riskierte einen Blick nach oben. „Wir sind unmittelbar unter dem ersten Turm. Los, lass uns nachsehen, wohin der Gang weiter führt.“ Er zog Althea mit sich. „Ich habe da so eine Ahnung..“
Althea folgte ihm verständnislos. Als sie jedoch sah, dass in Abstand der beiden hinteren Türme zwei in den Fels gehauene Treppen nach oben führten, ging ihr ein Licht auf. „Sie müssen zu den Türmen führen. Lass uns nachsehen. Wir können den Öffnungsmechanismus ausprobieren, dort drin ist eh niemand.“
Im ersten Turm fanden sie heraus, dass die Türen alle nach demselben Prinzip funktionierten. Zur Sicherheit blieb Althea im Gang, falls Phelan drinnen im Raum es nicht schaffte, den Mechanismus zu betätigen.
„Man muss es sogar von außen sehen können.“ Phelan deutete auf die Steinformation, die sie in der Turmkammer vor sich hatten. Sie sah genauso aus wie die in ihrer geheimen Kammer.
„Diese Türen können überall im Palast versteckt sein, ohne dass es jemand ahnt“, spann Althea den Gedanken aufgeregt fort. „Wir müssen darauf achten, wenn wir das nächste Mal dort sind.“ Auch hier vergaß sie nicht, die Tür von den Spinnweben zu befreien.
Der hintere Turm interessierte sie besonders, denn dies war derjenige, den Bajan hatte versiegeln lassen.
Stumm stand Althea schließlich vor dem Hexagramm. Eine unheimliche Kälte kroch ihr das Rückgrat hoch. Sie wurde ganz blass. Schnell öffnete sie wieder den Durchgang und blieb aufatmend im Gang stehen. Phelan folgte ihr verwundert. „Was ist denn?“
„Lass uns den anderen Gang erforschen, es ist mir unheimlich hier.“ Sie stürzte davon, wusste nur noch, dass sie so schnell wie möglich Abstand zwischen sich und diesen Ort bringen musste. Phelan blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, denn sie waren immer noch durch das Seil verbunden.
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