Die Jungen kamen keuchend mit zwei schweren Balken angelaufen. „Wozu soll das gut sein?“, rief einer von ihnen.
„Hast du noch nie etwas von Hebelwirkung gehört?“ Phelan verdrehte ungeduldig die Augen, wies dann aber die Jungen an, einen Balken quer vor das Loch zu legen. Zwei Jungen bedeutete er, Rynan unter die Arme zu fassen.
„Wenn wir den Quader anheben, zieht ihr ihn ganz schnell raus!“ Niemand wagte Phelan zu widersprechen. Er platzierte den anderen Balken in dem Loch, und die übrigen Jungen drückten ihn am anderen Ende mit aller Kraft nach unten. Der Quader hob sich etwa eine Handbreit, rollte dann aber wieder zurück. Rynan schrie gequält auf. Phelan schob den Balken weiter in das Loch. „Noch mal!“, trieb er sie an. Diesmal gelang es ihnen, den Quader so weit anzuheben, dass die Jungen Rynans Bein darunter hervorziehen konnten.
Erstaunt sahen die Jungen auf Phelans Werk. Dieser hatte sich jedoch bereits daran gemacht, das Bein von Rynan zu untersuchen. „Es ist gebrochen“, stellte er fest. „Wir brauchen eine Trage .. und holt den Hauptmann.“ Niemand stellte seine Anordnungen infrage.
Kurze Zeit später kam ein wütender Hauptmann mit zwei Wachen und einer Trage zurück. „Euch kann man aber auch keinen Moment allein lassen!“, polterte er los, beugte sich dann aber besorgt über Rynan. Sein Blick streifte die Balken und richtete sich dann auf Phelan. „Das ist bestimmt dein Werk, nicht wahr?“
Phelan nickte unglücklich. „Ich bin auf den Haufen geklettert, und er ist unter mir ins Rutschen gekommen. Es war meine Schuld, ich hätte vorsichtiger sein müssen.“
Der Hauptmann wollte gerade zu einer scharfen Rüge ansetzen, als er von unten eine gequälte Stimme vernahm. „Nein, es ist meine Schuld, ich habe ihn dazu angestiftet. Phelan hat mich gerettet.“ Rynan sah den Hauptmann flehentlich an.
Dieser seufzte ungeduldig. „Nun, wir bringen dich erstmal in die Häuser der hl. Asklepia. Ihr anderen seid für heute entlassen.“ Die Jungen machten sich bedrückt auf dem Heimweg, aber Phelan hielt der Hauptmann streng zurück. „Du kommst mit uns, es liegt eh auf deinem Weg.“
Die Soldaten legten Rynan vorsichtig auf die Trage, hoben sie an und folgten dem Hauptmann durch die Stadt den Berg hinauf. Phelan lief voraus und läutete die Glocke am Tor zu den Häusern der hl. Asklepia.
Die Tür wurde von Althea geöffnet. Als die Schwestern gemerkt hatten, wie flink und schnell sie war, hatten sie ihr gleich zu Anfang die Aufgabe übertragen, beim Läuten der Glocke die Tore zu öffnen und die Leute in Empfang zu nehmen. Auf diese Weise hatte sie schnell gelernt, welche Schwestern in welchen Bereichen der Häuser zuständig waren und wen sie wann zu holen hatte. Für den steten Strom der Heilssuchenden und ihrer Besucher war das kleine, merkwürdig aussehende Mädchen schon bald ein gewohnter Anblick geworden.
„Hallo Phelan, was machst du denn hier? Bist du krank?“, fragte sie belustigt. Dann jedoch fiel ihr Blick auf die Männer mit der Trage, die gerade um die Ecke bogen. „Oh, kommt herein, ich hole schnell Schwester Meda.“ Eilig machte sie sich auf die Suche, während die Männer die Trage in den Vorhof trugen.
Umgehend kam sie mit Meda zurück. Diese wies die Männer an, den Jungen in einen Behandlungsraum zu bringen. Vorsichtig untersuchte sie Rynans Bein. Er wurde immer unruhiger vor Schmerzen. Althea sah es, nahm seine Hand und drückte sie. „Ganz ruhig, du brauchst keine Angst haben. Sie wird dir gleich etwas gegen die Schmerzen geben, dann merkst du nichts mehr.“ Rynan schloss dankbar die Augen.
Meda wurde erst jetzt bewusst, dass die Kinder noch im Raum waren. Althea hatte bis jetzt noch nicht an der Behandlung von Patienten teilnehmen dürfen, aber da sie so beruhigend auf den Jungen einwirkte, entschloss sich Meda dazu, dass sie bleiben durfte und der Sohn der Königin auch, denn er war offensichtlich der Freund des Patienten.
Meda murmelte vor sich hin: „Mohnsaft für das Richten und später etwas Weidenrindentee .. Althea, lauf bitte schnell in die Kräuterkammer und lass dir von den Schwestern Mohnsaft für einen ..“, sie schätzte den Jungen ab, „Halbwüchsigen geben. Den Tee brauchen wir erst später.“ Althea nickte, winkte Phelan zu sich und bedeutete ihm, Rynans Hand zu nehmen.
Phelan hatte keine Zeit zu widersprechen, denn Schwester Meda begann das Bein abzutasten, woraufhin Rynan sich an seiner Hand festklammerte. „Halt ihn fest, Phelan“, wies Meda ihn an, „er darf sich nicht bewegen.“ Phelan tat wie geheißen, während sie die Untersuchung fortsetzte. Rynan versuchte, sich vor Schmerzen hin und her zu werfen, deshalb musste Phelan alle seine Kraft aufwenden, um ihn ruhig zu halten.
Dankbar überließ er diese Aufgabe einer anderen Schwester, die gleich darauf mit Althea zur Tür hereinkam. Gemeinsam schafften sie es, Rynan zur Einnahme des Mohnsaftes zu bewegen. Es dauerte qualvoll lange, aber endlich war Rynan eingeschlafen.
Was jetzt folgte, daran mochte Phelan später nur ungern zurückdenken. Während er und Althea das gebrochene Bein mit aller Kraft nach vorne ziehen mussten und die andere Schwester den Gegenzug am Knie ausübte, richtete Meda die Knochen wieder ein. Es knirschte fürchterlich. Schließlich lag das Bein geschient und verbunden vor ihnen.
„Zum Glück ist es nur ein einfacher Bruch“, sagte Meda. „Er wird es wieder normal gebrauchen können. Gut gemacht, Kinder, ihr ward mir eine große Hilfe.“ Althea war stolz, sie hatte ihren ersten Patienten behandelt. Phelan dagegen war noch etwas blass um die Nase. Meda wollte ihn trösteten. „Übermorgen, wenn die Wirkung des Mohnsaftes gänzlich nachgelassen hat, darfst du deinen Freund besuchen, einverstanden?“
Phelan nickte und ließ sich von Althea in den Garten ziehen, während die Schwestern sich weiter um den Jungen kümmerten. Gleich darauf waren aufgeregte Stimmen zu hören. Seine Eltern waren wohl eingetroffen.
„Erzähl, was ist passiert?“, wollte Althea wissen, doch Phelan gab sich verschlossen.
„Es war ein Unfall“ sagte er nur. Er musste noch über zu viel nachdenken, als dass er ihr schon einen Bericht abliefern konnte. Außerdem hatte er eben gemerkt, dass seine kleine Cousine offensichtlich gut ohne ihn klarkam, und das passte ihm gar nicht.
Althea war ärgerlich. „Sag mal, willst du nicht mehr mit mir reden?“ Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. Irgendetwas hatte sich in den letzten Wochen zwischen ihnen verändert, das spürte sie genau.
‚Sei nicht unfair, sie kann ja nichts dafür’, dachte Phelan. „Hör mal, ich muss noch etwas in der Heerschule erledigen. Morgen ist Herrentag, treffen wir uns in unserer Kammer?“
‚Er weicht mir aus’, dachte Althea verletzt, als Phelan ins Haus zurücklief. Verwundert sah sie ihm nach. Schließlich zuckte sie unwirsch mit den Schultern. Sollte er doch schlechte Laune haben, sie würde sich davon gewiss nicht anstecken lassen! Schnell lief sie in die Häuser zurück, denn die Türglocke läutete erneut.
Am nächsten Morgen tauchte ein völlig unausgeschlafener Phelan im Wohntrakt von Altheas Zuhause auf. Die ganze Nacht lang hatte er schlaflos über die Ereignisse nachgedacht und war am Morgen aus dem Haus entkommen, noch bevor Yola ihn für den Gang zum Tempel erwischen konnte. Am Tag des Einen Herrn, der einmal in der Woche war, ruhte alle Arbeit, und alle Frauen und Mädchen hatten traditionell den Einen Tempel oder einen der zahlreichen anderen Schreine und Tempel in der Stadt zum Gebet aufzusuchen. Für Männer galt diese Regel nur bedingt. Schließlich hatten viele anderweitige Pflichten. Böse Zungen behaupteten, viele nutzten die Gelegenheit, lieber eine Schenke zu besuchen, deshalb hieß dieser Tag im Volksmund einfach nur ‚Herrentag’. Ganz so schlimm war es jedoch nicht, auch die Männer folgten dem Ruf der Mönche zahlreich.
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