Thorald schmunzelte in sich hinein. Das war eine sehr treffende Charakterisierung vieler Mädchen hoher Abstammung in diesem Land. „Dann hast du wohl deine Berufung entdeckt.“ Er gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn und löschte das Licht.
Die folgenden Tage und Wochen vergingen wie im Fluge. Althea konnte das Ende des Unterrichts bei ihrem Vater kaum abwarten, schlang noch schnell ihr Mittagsmahl herunter und war schon über die Straße in den Häusern der hl. Asklepia verschwunden. In ihrer Eile entging ihr völlig, dass Phelan zunehmend blasser und einsilbiger wurde. Thorald warf ihm häufiger besorgte Blicke zu, aber der Junge schwieg sich aus.
Nach dem Unterricht machte sich Phelan stets missmutig auf den Weg in die Heerschule. Hatte er anfangs noch dem Unterricht mit großer Erwartung entgegengesehen, war ihm die Lust bald vergangen. Die anderen Jungen waren alle ein bis zwei Jahre älter als er, und die Tatsache, dass er vormittags nicht mit den anderen unterrichtet wurde, machte die Sache nicht einfacher. Ständig wurden ihm Streiche gespielt, seine Sachen verschwanden und tauchten auf wundersame Weise woanders wieder auf.
Da Bajan mit seinen Kundschaftern auf Expedition war, wurden sie von einem Hauptmann unterrichtet, der aus seiner Abneigung gegen Söhne adeliger Eltern keinen Hehl machte. Doch Phelan war nicht bereit, so ohne Weiteres aufzugeben. So hatte er schon manchen der Jungen durch geschickte Kniffe und Würfe in den Sand des Hofes geschickt, wenn diese ihn wieder einmal zu sehr ärgerten. Damit fing er sich aber auch Bestrafungen seines Lehrers ein, was wiederum den Spott seiner Mitschüler hervorrief.
Phelan schnaubte verächtlich, als er die Straße zur Heerschule hinunterlief. Dabei waren die anderen Jungen weniger klug als er, das hatte er sofort gemerkt. Er war ihnen dank Meister Thoralds Unterricht im Wissen weit voraus, und im geschickten Taktieren, dem Erfinden von Strategien und neuen Wegen schlug er sie um Längen. Dies hatte auch der Lehrer bereits bemerkt und zollte ihm dafür, wenn auch widerwillig, Anerkennung. Leider wurde dadurch die Kluft zu den anderen nur noch größer. Aber vielleicht muss das so bei einem Königssohn sein, dachte Phelan resigniert.
Heute sammelten sie sich vor dem Tor der Heerschule. Es war eine Lektion im Spurenlesen angesetzt, was bedeutete, dass sie vor die Stadt ziehen würden. Aufgeregt redeten die Jungen durcheinander. Ein besonders großer Junge namens Rynan stieß seine Kameraden an. „Schaut, da kommt Seine Majestät“, spottete er und verbeugte sich übertrieben. Die anderen Jungen lachten. Es war ein Fehler gewesen, seine genaue Herkunft zu verschweigen, das hatte Phelan sehr schnell gelernt. Er hatte den anderen lediglich gesagt, dass er in der Festung wohnte, mehr nicht. Ausgerechnet diese Zurückhaltung nahmen sie nun als Anlass zum Spott, sie dachten, er wolle angeben. Nun saß er in der Klemme und wusste nicht, wie er dort wieder herauskommen sollte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu wehren, so gut er konnte.
Doch er bekam keine Gelegenheit mehr, etwas Passendes zu erwidern, denn das Tor schwang auf und der Hauptmann erschien. Sie reihten sich zu zweit hinter ihm ein und folgten ihm aus der Stadt. Phelan stapfte wütend einher. Immer wieder war es Rynan, der ihn ärgerte. Ohne ihn wäre es viel besser in der Gruppe, aber die anderen trauten sich in seiner Gegenwart nicht, freundlich zu ihm zu sein. Ein Junge hatte es einmal gewagt, hatte dafür aber von Rynan böse Prügel bezogen.
Phelan fragte sich wohl schon zum hundertsten Mal, warum Rynan so einen Hass auf ihn hatte. Lag es daran, dass Rynans Vater wegen eines Händels aus der Palastwache ausgeschlossen worden war? Das hatte Yola ihm erzählt. Möglich wäre es. Vertieft in seine Überlegungen merkte er zu spät, dass sie bereits vor der Stadt waren und der Hauptmann ihm eine Frage zu einem Hufabdruck gestellt hatte. Phelan schreckte auf, aber der Hauptmann hatte bereits verächtlich die Frage an Rynan weitergereicht. Dieser beantwortete sie mit einem triumphierenden Blick auf Phelan.
Den ganzen Nachmittag untersuchten sie die Spuren von Tieren und Menschen. Phelan bekam bald die Gelegenheit, seinen Schnitzer vom Anfang wieder wettzumachen. Ratlos standen die Jungen vor einem Fußabdruck, der tief in den Schlamm bei einer Wasserstelle gegraben war.
„Wie alt ist dieser Abdruck?“, fragte der Hauptmann in die Runde. Die Jungen schwiegen. Phelan schaute auf die Sonne und bemerkte, dass der rechte Rand des Fußabdruckes bereits wesentlich stärker eingetrocknet war als der linke.
„Er ist heute Vormittag vor der zehnten Stunde entstanden“, sagte Phelan als Erster.
„Begründe deine Annahme“, forderte der Hauptmann ihn auf.
„Der rechte Rand ist stärker getrocknet als der linke, also muss die Sonne schon einige Zeit vor dem Mittag darauf geschienen haben. Er kann aber auch nicht zu früh entstanden sein, denn morgens werden die Tiere hier getränkt. Sie hätten ihn zertrampelt.“
Der Hauptmann war beeindruckt. „Sehr gut, ich selbst habe diesen Abdruck heute Vormittag kurz vor der zehnten Stunde gemacht. Nehmt euch ein Beispiel an Phelan und achtet stets auf das Wetter und die Sonne, das erleichtert es euch, die Spuren richtig zu lesen!“
Da wurden laute Rufe vor dem Stadttor laut. Der Hauptmann schaute beunruhigt auf die aufgeregte Menge. Männer der Stadtwache erschienen. „Ich sehe mal nach, was dort los ist. Ihr bleibt hier. Und keine Dummheiten, verstanden?“ Die Jungen standen stramm.
Doch kaum war der Hauptmann gegangen, spottete Rynan auch schon los: „Nehmt euch ein Beispiel an Eurer Majestät, dem Besserwisser!“ Alle lachten.
Phelan zögerte nicht und trat ihm mit einem gezielten Tritt die Beine weg. Schmerzhaft landete Rynan mit seinem Hintern auf dem staubigen Boden. Ein wütendes Glitzern stand in seinen Augen. Hämisch grinsend fasste er in seine Tasche und holte einen kleinen Gegenstand heraus. Es war Phelans Federmesser, das er seit einigen Tagen vermisste. „Gib das sofort her!“ Phelan wollte sich auf Rynan stürzen, wurde aber von zwei anderen Jungen festgehalten.
„Mal sehen, wie du mit dieser Aufgabe fertig wirst!“, rief Rynan und warf das Messer in hohem Bogen auf einen großen Haufen Felsquader, die vor der Stadt bis zu ihrer Verarbeitung lagerten. Klappernd fiel es in eine Spalte.
Phelan riss sich los und kletterte unter den spöttischen Rufen der anderen Jungen auf den Haufen. Verzweifelt schaute er in die Spalten zwischen den Quadern. Das Messerchen bedeutete ihm sehr viel, es war ein Geschenk seiner Mutter.
Rynan baute sich vor dem Haufen auf. „Arme Majestät, manche Aufgaben sind wohl doch zu viel für dich!“
Plötzlich sah Phelan etwas in einer Spalte glitzern. Er lehnte sich weit vor und streckte seinen Arm hinein. Triumphierend zog er sein Messer hinaus. Die anderen Jungen jubelten, nur Rynan war das Lachen vergangen. Phelan wollte gerade zu einer passenden Erwiderung ansetzen, als er merkte, wie die Steine unter ihm in Bewegung gerieten. „Zurück!“, rief er und versuchte vergebens, das Gleichgewicht zu halten. Doch es war zu spät, der Haufen geriet ins Rutschen. Phelan schaffte es gerade noch, sich mit einem Sprung in sichere Entfernung zu retten. Geschickt rollte er sich ab und wollte schon in Gelächter ausbrechen, als er einen schmerzhaften Schrei hinter sich hörte. Rynan lag auf dem Boden, das Bein unter einem großen Felsquader begraben.
Schnell liefen die Jungen hin und versuchten, den Brocken von Rynan herunterzuschieben, aber er war zu schwer. Rynan stöhnte bei jeder Bewegung gequält auf. „So geht es nicht!“, rief ein Junge verzweifelt.
Phelan zögerte nicht. „Schnell, holt uns von dort hinten zwei dicke Balken, macht schon!“, trieb er die Jungen an. Es war ihm egal, wie wertvoll sie eigentlich waren, jetzt galt es, Rynan zu helfen. Sie rannten los, während er neben Rynans Bein mit seinem Messer ein Loch unter den Quader grub.
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