Als sie den Raum betraten, staunte Althea nicht schlecht. An den Wänden war eine Unmenge an Holzfächern angebracht, in denen Hunderte von Schriftrollen lagen und eine wohl noch größere Anzahl an Büchern stand. Es mussten fast so viele sein wie in Menos Archiv! Sie war so von dem Anblick gefesselt, dass sie die kleine, weißhaarige Frau mit dem gütigen Gesicht, die hinter einem Schreibpult stand, erst wahrnahm, als Naluri sie anstieß. Nun staunte sie noch mehr: Die Frau hatte kurze Haare!
Naluri nahm ihren Schleier ab. Die Frau kam auf sie zu und verbeugte sich vor der Königin. „Euer Majestät, was verschafft mir die Ehre Eures Besuches?“ Sie warf einen neugierigen Blick auf Althea und dachte: ‚Sieh an, das kann nur Meister Thoralds Tochter sein.’
„Ehrwürdige Mutter, ich muss Euch um Hilfe bitten“, setzte Naluri an.
Doch diese hatte sie aufmerksam angesehen und ihre Hand ergriffen. „Ihr habt starke Kopfschmerzen, das sehe ich Euch an. Ich werde eine Schwester bitten, Euch ein Mittel zu geben. Aber dafür habt Ihr mich doch nicht nur deswegen aufgesucht, nicht war?“ Sie führte Naluri sanft zu einem bequemen Stuhl. Althea blieb, wo sie war.
„Nein, meine Kopfschmerzen haben eine Ursache.“ Sie deutete mit dem Kopf auf das Mädchen. „Das ist meine Nichte Althea, die Tochter von Meister Thorald. Ich habe ihm versprochen, mich stärker um ihre Erziehung zu kümmern, aber ich muss gestehen, dass ich mit meiner Weisheit am Ende bin. Wir haben seit einer Woche nur noch Streit im Hause.“
„Komm her, Kind.“ Althea gehorchte. Klesa nahm ihre Hand und sah ihr fest in die Augen. „Warum machst du deiner Tante solchen Kummer? Siehst du denn nicht, dass sie es schon schwer genug hat?“
Althea senkte beschämt den Kopf. „Ich kann einfach nicht so brav sein wie die anderen Mädchen. Ständig geht alles schief“, schniefte sie, denn ihr kamen wieder die Tränen, wohl zum größten Teil aus Ärger über sich selbst.
Klesa lachte auf. „Wisst Ihr, Majestät, sie erinnert mich an ein anderes Mädchen in ihrem Alter, das genauso war.“ Naluri sah sie an. Lang vergessene Erinnerungen kamen an die Oberfläche. Die ehrwürdige Mutter nickte, als Naluri zu begreifen begann. „Kaum zu bändigen und wild wie ein Junge. Aber das hat sich geändert, als wir uns ihrer angenommen hatten, nicht wahr? Ihr wollt nun, das wir dasselbe mit Althea machen?“
„Nur nachmittags, mehr kann ich Euch wahrlich nicht zumuten“, lenkte Naluri ein. Klesa konnte man so leicht nichts vormachen. „Vormittags wird sie zusammen mit Phelan von ihrem Vater unterrichtet. Dann ist es Euch also recht?“ Sie schloss erleichtert die Augen.
Mitfühlend drückte die alte Heilerin ihre Hand. „Wir werden Euch jetzt erstmal in eine Krankenkammer bringen, wo Ihr ein paar Stunden ruhen könnt. Dann geht es Eurem Kopf bestimmt besser.“ Naluri nickte nur und zog ihren Schleier wieder über. Klesa tat dasselbe, nur dass ihrer nicht blau, sondern weiß war. Gemeinsam verließen sie den Raum. Rasch brachte sie die Königin zu einer abgelegenen, ruhigen Kammer, in der eine schlichte Liege stand. Der herbeieilenden Schwester erteilte sie ein paar knappe Anweisungen, dann bedeutete sie Althea, ihr zu folgen.
„So, und jetzt werden wir beide uns einmal richtig unterhalten“, sagte sie und setzte sich mit Althea auf eine freie Bank. Althea schaute untypisch scheu zu ihr auf.
„Wie du sicherlich weißt, sind wir ein Orden, der sich der Pflege und Heilung von verwundeten und kranken Menschen verschrieben hat. Unsere Frauen arbeiten hart von morgens bis abends, um der Flut der Notleidenden einigermaßen gewachsen zu sein. Wir können daher keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Unartigkeiten von dir nehmen. Entweder du akzeptierst das und gehorchst unseren Anweisungen, oder du wirst wieder gehen. Hast du das verstanden?“
Althea nickte. Ihr wurde unbehaglich zumute. Klesa sah es und fuhr etwas milder fort: „Du erhältst hier die Gelegenheit, das umfangreiche Wissen einer Heilerin zu erwerben. Diese Möglichkeit haben wahrlich nicht viele Mädchen in dieser Stadt, daher solltest du dies zu würdigen wissen.“
Althea sah mit großen Augen zu ihr auf. „Ich soll eine Heilerin werden?“, fragte sie ungläubig.
„Kind, warum bist du sonst hier? Außerdem, deine Mutter war eine sehr begabte Heilerin, und es besteht die Möglichkeit, dass du ihr Talent geerbt hast. Die Gelegenheit, das herauszufinden, wollen wir uns doch nicht entgehen lassen, nicht wahr?“
„Ihr habt meine Mutter gekannt! Sie war das Mädchen, von dem Ihr vorhin geredet habt!“ Nun sah die Sache ganz anders für sie aus. Hier gab es bestimmt noch mehr Frauen, die mit ihrer Mutter hier gelebt hatten und ihr mit Sicherheit eine Menge berichten konnten. Althea sah Klesa feierlich an. „Ich werde Euch bestimmt nicht enttäuschen, das verspreche ich.“
Die alte Frau drückte Althea kurz an sich. Wie ihre Augen bei der Erwähnung der Mutter geleuchtet hatten, dachte sie traurig. Sie stand auf. „Nun, dann komm, ich bringe dich zu Meda. Sie wird sich deiner annehmen.“
Sie nahm Althea an die Hand und ging mit ihr in die gegenüberliegende Ecke des Innenhofes, von wo mehrere Gänge abzweigten. Sie gelangten in einen großen Raum, in dem es wunderbar nach allen möglichen Kräutern duftete. Um einen großen Tisch in der Mitte standen einige Ordens- und Laienschwestern herum und verarbeiten fröhlich plaudernd die dort angehäuften Kräuter. Sie grüßten ihre Ordensvorsteherin, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Diese winkte eine Frau mit vollständigem Schleier zu sich, die mit einer anderen Schwester und einer Liste in der Hand die Vorräte durchging.
„Meda, dies ist Althea, Amayas kleine Tochter.“ Augenblicklich verstummten die Gespräche der anderen Frauen. Die älteren Frauen hatten sich abrupt in Altheas Richtung gewandt, während die jüngeren sich fragend ansahen.
Die Ordensvorsteherin war sich der Wirkung ihrer Worte wohl bewusst. „Sie wird ab heute jeden Nachmittag bei uns sein. Würdest du sie bitte einteilen?“
Lange Zeit sagte niemand etwas, doch schlagartig prasselte ein Sturm von Worten auf Althea ein. Jede der älteren Frauen wollte sie genauer betrachten, die jüngeren drängten neugierig nach. Sie versteifte sich sofort und wich ein wenig zurück.
„Nun ist es aber genug, ihr macht der Kleinen ja Angst!“ Meda klatschte in die Hände und scheuchte die Frauen zurück an den Tisch. „Ihr werdet noch genug Gelegenheit haben, sie näher kennenzulernen. Du kommst erstmal mit mir, einverstanden?“ Meda fasste sie bei der Hand und zog sie von der ehrwürdigen Mutter weg.
Sie schlug ihren Schleier zurück, um Althea ihre Scheu zu nehmen, und lächelte sie warmherzig an. „Die Frauen haben sich so manches Mal gefragt, wann sie dich endlich zu uns bringen. Da bist du nun also. Tja, dann werde ich mir heute Abend wohl etwas überlegen müssen, wie wir dich am besten einteilen. Aber nun, du kannst doch sicherlich lesen und schreiben?“
Althea nickte und bekam gleich darauf die Liste in die Hand gedrückt. „Gut, du notierst links die Namen der Kräuter und rechts die Anzahl der Päckchen, so wie Netis es bereits getan hat. Wir sagen dir zu zweit an, so sind wir schneller mit unserer Bestandsaufnahme durch, verstanden?“ Die zweite Heilerin, eine ältere, mütterlich wirkende Frau, lächelte ihr warm zu. Althea fasste sofort Zutrauen zu ihr und erwiderte es. Geschwind zog sie sich einen Schemel heran, legte die Liste darauf und begann, die Mengen zu notieren.
Abends lag sie vollkommen erschöpft im Bett. Thorald hörte ihren Erzählungen zu, das Buch der tausend Geschichten blieb wieder einmal geschlossen. „Es ist nicht langweilig wie bei Tante Naluri, ich kann dort wirklich etwas tun und ..“, sie suchte nach Worten, „.. irgendwie nützlich sein. Meine Cousinen sind nicht nützlich, sie sind einfach nur da“, stellte sie sachlich fest.
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