Das galt jedoch nicht für die Familie des Temorers. Sie saß gerade beim Frühmahl, aber Thorald erlaubte Althea, gleich mit Phelan zu gehen, nicht jedoch ohne sie zu ermahnen, auf dem Gelände des Hauses zu bleiben.
Schnell schlichen sie in ihren Raum. Althea blieb in der Tür stehen und sah ihren Cousin, der missmutig in einem Haufen hölzerner Übungswaffen wühlte, abschätzend an. „Willst du mir nicht endlich sagen, was passiert ist?“
Phelan antwortete nicht, sondern warf ihr nur wortlos einen Speer und einen Schild zu. Unwirsch wies er sie an, die Grundstellung einzunehmen. Sie übten etwa eine halbe Stunde verbissen, und Althea fand, dass sie sich gar nicht schlecht schlug, aber Phelan hatte immer wieder etwas an ihrer Haltung auszusetzen.
Schließlich warf Althea beides frustriert in die Ecke. Langsam wurde sie richtig wütend. „Du hast doch irgendetwas! Warum erzählst du mir nicht, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist, anstatt das an mir auszulassen?“, fauchte sie ihn an.
„Das geht dich gar nichts an! Warum gehst du nicht wieder zu deinen Schwestern und lässt dich dort loben, anstatt mir auf die Nerven zu gehen?!“ Wütend hieb Phelan seinen Speer in einen Schild. Es splitterte.
Althea schaute ihn schlau an. „Ach so ist das also, es läuft wohl nicht so gut in der Heerschule für dich. Du bist neidisch auf mich, weil mich die Schwester gelobt hat.“ Phelan fuhr mit blitzenden Augen zu ihr herum, aber Althea konnte es nicht lassen, in der Wunde zu stochern. „Passt es dir etwa nicht, dass du nicht mehr der Einzige bist, der mir etwas beibringt, sondern dass ich etwas anderes lerne, wovon du nichts verstehst, verehrter großer Herr Cousin?“ Die letzten Worte hatte sie fast ausgespuckt.
Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sich Phelan auf Althea. Da sie fast gleich groß und stark waren, war das Kräfteverhältnis mehr als ausgeglichen, und sie rangen geraume Zeit miteinander. Schließlich hatte sich Althea auf seine Beine gesetzt und drückte seine Arme auf den Boden. Phelan versuchte, sich mit einem wütenden Keuchen zu befreien, aber das war gar nicht so einfach. Schließlich schaffte er es, seine Beine unter ihr hervorzuwinden.
Althea merkte, was er vorhatte, und wollte sich noch zur Seite werfen, aber da stieß er sie auch schon mit beiden Füßen von sich. Sie wurde zurückgeworfen und prallte schmerzhaft gegen die hintere Wand. Für kurze Zeit schwanden ihr die Sinne, und sie dachte, dass das schabende Geräusch, das sie hörte, und die anschließende Dunkelheit wohl durch den Schlag auf ihren Kopf entstanden waren.
Erst, als sie langsam wieder zu Bewusstsein kam, bemerkte sie, dass etwas entschieden nicht stimmte. Sie konnte nichts sehen, und es war kalt und feucht und roch irgendwie muffig. Staubig. Sie nieste. Vorsichtig tastete sie um sich und griff in einen Haufen Spinnweben. Etwas Großes krabbelte über ihre Hand. Mit einem Aufschrei fuhr sie zurück und presste sich an die Wand.
Phelan saß völlig verdattert vor einer leeren Wand. Nur langsam begriff er, dass Althea verschwunden war. Dort, wo vorher noch nackter Stein gewesen war, hatte er jetzt einen über und über mit Spinnweben bedeckten Teil vor sich. Auf dem Boden vor der Wand war ein Halbkreis zu sehen. Überall war Staub in der Luft, so sehr, dass er husten musste. Dann hörte er ihren Schrei. Angstvoll rappelte er sich auf und begann, nach ihr zu rufen.
Als keine Antwort kam, schlug er mit der flachen Hand gegen die Mauer. Althea drückte ihr Ohr von der anderen Seite dagegen. Jetzt konnte sie ihn wie aus weiter Ferne rufen hören. „Bleib, wo du bist!“, schrie er laut. Zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, klopfte sie ihr Zeichen von der Gartentür.
Phelan setzte sich zurück. Er begann, fieberhaft zu überlegen, und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie Althea gefallen war. Offensichtlich hatte sie dabei einen Mechanismus ausgelöst, der die Wand in Bewegung brachte. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und ging dann ihre Haltung nachahmend rückwärts an die Wand.
Als er sich wieder umdrehte, fiel ihm auf, dass an drei Steinen, die ziemlich genau die Lage ihres Kopfes und ihrer Hände beim Sturz entsprachen, die Spinnweben nicht ganz so verstaubt wirkten. Vorsichtig drückte er die Stellen und merkte, wie sie unter seinen Fingern nachgaben.
Er sprang zurück, denn die Wand begann sich mit demselben knirschenden Geräusch zu drehen wie vorhin. Gleich darauf saß eine weinende, völlig in Panik geratende Althea vor ihm. Schützend nahm er sie in die Arme, alle Wut war vergessen. „Es tut mir so leid“, flüsterte er und wiegte sie tröstend. Bald darauf hatte sie sich wieder beruhigt.
Phelan setzte sich neben sie an die Wand und beichtete ihr, warum er so wütend gewesen war. Nichts ließ er aus.
„Ich geh zu Rynan und sage ihm, wenn er dich weiter so ärgert, dann sorge ich dafür, dass er noch Monate im Bett bleiben muss.“ Althea war schon fast wieder die Alte und lächelte ihn verweint an.
Vorsichtig wischte er ihre Tränen mit einem Tuch ab. „Nein, das brauchst du nicht. Ich werde ihn morgen einfach erst einmal besuchen. Mal sehen, was er so sagt. Ich glaube, dass ich ihn befreit habe, hat ihn mächtig beeindruckt, auch wenn er sich eher die Hand abhacken würde, als das zuzugeben.“
„Kluger Phelan!“, lächelte Althea. Dann sprang sie auf. „Was meinst du, wohin die Geheimtür führt?“, rief sie aufgeregt. „Als ich geschrien habe, gab es ein mächtiges Echo. Es klang, als ginge es dort noch viel weiter.“ Sie wollte schon wieder den Mechanismus drücken, aber Phelan hielt sie, besonnen, wie er war, zurück.
„Nein warte, du weißt nicht, was uns dahinter erwartet. Wir brauchen Licht, mindestens ein Seil und eine lange Schnur, damit wir wieder zurückfinden. Ich glaube es einfach nicht!“ Aufgeregt sah er Althea an. „Jetzt wissen wir wenigstens, warum der Raum hier mit der Säule verbaut worden ist und von niemandem mehr betreten werden kann.“
„Ob Currann seine kleinen Fackeln und die Schlagsteine mitgenommen hat?“, fragte Althea.
„Nein, hat er nicht. Ich war in seiner Kammer, als er weg war.“ Phelan grinste. Das würde Currann gewiss nicht gefallen.
Beide hoben den Kopf, als sie Lusela von draußen zum Essen rufen hörten. „Geh essen, ich laufe schnell nach Hause und hole die Sachen.“ Vorsichtig blickte er durch die Tür und sah Lusela wieder in die Diele gehen. „Los, die Luft ist rein. Bis gleich.“ Schon war er verschwunden.
Lusela war ärgerlich, denn sowohl Althea als auch Thorald und Meno verspäteten sich. „Was kann an Büchern so wichtig sein, dass man das Essen vergisst?“, schimpfte sie. Althea war viel zu aufgeregt, als darauf einzugehen, und musste all ihre Konzentration zusammennehmen, um dem Gespräch bei Tisch folgen zu können.
Schließlich durfte sie gehen, während die Erwachsenen noch bei einem Becher ihres geliebten Kaffees beisammensaßen. Ungeduldig wartete sie in ihrem geheimen Raum auf Phelan.
Er brauchte über eine Stunde, bis er keuchend vor Anstrengung wieder erschien, im Arm ein langes Seil und eine Decke, in die ein länglicher Gegenstand eingeschlagen war. „Ich konnte kein Seil finden und habe mir eines bei den Wachen geliehen. War gar nicht so einfach, sie wollten genau wissen, wofür und weshalb.“ Althea hielt einen Besen in der Hand. „Wofür brauchst du den denn?“, fragte Phelan belustigt.
„Da drinnen ist alles voller Spinnweben“, ekelte sich Althea. „Ich mache sie damit weg. Außerdem sieht man sonst, wo der Eingang ist.“
„Stimmt, aber ich für meinen Teil bevorzuge lieber das hier“, sagte Phelan und rollte die Decke auseinander.
„Das ist dein Schwert!“, entfuhr es Althea. Es war äußerst kostbar, und er durfte es eigentlich nie tragen.
„Besser so, als wenn es in einer Truhe verrottet.“ Phelan zuckte mit den Schultern und band sich den Schwertgurt um. Feierlich sahen sie sich an. „Na, dann mal los!“ Phelan zündete die Fackel an, bedeutete Althea zurückzutreten, und drückte den Mechanismus.
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