Anwyll machte sich auf zum Lager der Saraner. Obwohl er Thoralds Angebot, eine Sänfte für ihn zu rufen, abgelehnt hatte, war er froh, dass zwei Diener sein Gepäck trugen, sonst hätte er den Weg wohl nur mühsam bewältigt. So aber kam er rasch voran, schließlich ging es bergab. Die Sonne ging gerade unter, der eh schon kühle Wind war weiter aufgefrischt. Ehrfürchtig machten die Bewohner Gildas dem weiß gekleideten Mann auf seinem Weg durch die Stadt Platz.
Schon von Weitem sah er, dass im Lager der Saraner bereits die Feuer brannten. Roar war nicht überrascht, ihn zu sehen. Erfreut stellte Anwyll fest, dass sein Zelt aufgebaut war, und wärmte seine alten Knochen dankbar an einem Feuer.
„Ich nehme an, Ihr wollt mich bitten, mit zu dem Außenposten zu reiten“, brummte Roar, als sie später bei einem Becher Wein zusammensaßen. Es war eine Feststellung, keine Frage. Schon bevor der alte Mann im Lager eingetroffen war, waren die Gerüchte über das Unglück durch die Stadt bis zu ihnen gedrungen. Jeldrik hörte den beiden Männern aufmerksam zu.
„Ja, das stimmt.“ Anwyll war sich durchaus im Klaren darüber, dass er als geistliches Oberhaupt jedes Recht hatte, die Reise zu befehlen. Schließlich hatten alle Völker des Westens vor Urzeiten den Schwur geleistet, der Gemeinschaft stets zu Diensten zu sein, doch Anwyll hatte dieses Recht noch nie ausgenutzt.
Roar brummte in seinen Bart und schenkte seinem Gast Wein nach. „Ich muss gestehen, dass ich selbst neugierig bin, was dort vorgefallen ist. Habt Ihr eine ungefähre Vorstellung?“ Anwyll schaute schnell zu Jeldrik hinüber. Roar hob die Hand. „Mein Sohn wird alles erfahren, was ich auch erfahre. Er ist alt genug“, sagte er bestimmt.
Anwyll entschied sich, die volle Wahrheit zu erzählen. Roar hörte äußerlich ruhig zu, aber innerlich wuchs seine Besorgnis. Auch er kannte die Legende von Phileas, denn auch er war als Fürst von Saran Teil des Paktes. Jeldrik überlief es kalt, als der davon hörte. So hatte er sich das Geheimnis ganz gewiss nicht vorgestellt!
„Ich stimme Euch zu, wir sollten wirklich mitkommen“, sagte sein Vater schließlich. „Und Ihr sagt, Fürst Bajan sei auch der Meinung? Dann ist es gut, ich halte sehr viel von ihm. Er ist ein kluger Mann, vielleicht zu klug für uns. Ich möchte aber Jeldrik aus der Sache heraushalten.“
„Aber Vater, warum darf ich nicht mit?“ Jeldrik war enttäuscht.
„Der König schickt ebenfalls seinen Ältesten mit auf die Reise“, wandte Anwyll ein, „er meint, es wäre eine gute Erfahrung für ihn.“
„Was, Currann kommt auch mit?“, rief Jeldrik. „Darf ich dann auch mit? Bitte, Vater!“
„Sohn, diese Reise wird kein Vergnügen! Wir werden wahrscheinlich Schreckliches zu Gesicht bekommen. Bist du bereit dafür?“
„Natürlich!“ Er hörte selbst, dass das ein wenig zu schnell kam, und setzte nach: „Außerdem, wie willst du mich denn nach Hause schicken, wenn alle Männer mitgehen?“
Der Logik seines Sohnes konnte sich Roar nicht verschließen. „Gut gesprochen, das stimmt natürlich. Eine Aufteilung kommt nicht infrage. Also gut, aber ich verlasse mich darauf, dass du dich nicht in Schwierigkeiten begibst, verstanden?“
Jeldrik war glücklich. „Versprochen, Vater!“
„Dann ab in dein Zelt, morgen wird ein langer Tag.“ Der Junge trollte sich ohne Widerspruch, war er doch sehr zufrieden mit dem Ausgang seiner Verhandlung.
Die beiden Männer warteten, bis seine Schritte verklungen waren, und begannen die Sache genauer zu erörtern. Sie wechselten dabei ins Saranische, damit kein zufällig vorbeikommender Gildaer sie belauschen konnte. Außerdem hatte Roars Muttersprache den Vorteil, dass sie wesentlich weniger formell war, was beiden Männern sehr gelegen kam.
„Das wirft all deine Pläne über den Haufen, nicht wahr, Roar Magnarsfalir?“
Das Gesicht des Anführers verzog sich finster. „Auch wenn ich von Bajan viel halte, vor ihm müssen wir uns in Acht nehmen. Er sieht viel zu viel. Nicht umsonst ist er als Heerführer geachtet und gefürchtet zugleich.“
Anwyll gluckste belustigt in sich hinein. „Es stellt deine Männer vor ganz andere Herausforderungen als gedacht. Ein Fehler von ihnen, und all deine Pläne sind gescheitert. Sie werden sich gehörig zusammennehmen müssen.“ Er streckte sich erleichtert aufatmend auf seinem Sitz und nahm einen Schluck Wein. Sinnierend starrte er in den Becher und die klare rote Flüssigkeit. „Mal abgesehen von den ernsten Ereignissen, die uns erwarten, ich denke, diese Reise hat sich schon jetzt auf mehr als eine Art gelohnt“, sagte er nach einer Weile.
„Du meinst den Ratsherrn Thorald?“ Roar gelang es nur mühsam, seine sorgenvollen Gedanken abzuschütteln. „Er war einst dein Schüler, nicht wahr?“ Mit dem Temorer hatte er bis auf ein paar Belanglosigkeiten kein Wort gewechselt. „Irgendwie erinnert er mich an jemanden. Ich weiß nur nicht, an wen.“
Erstaunt wandte Roar den Kopf, als Anwyll leise zu lachen begann. „Oh ja, das tut er, aber dies Rätsel zu lösen überlasse ich dir, Clansführer.“
Der Rufer lief wütend in seiner Kammer hin und her. Nicht nur, dass er den Meister durch sein eigenmächtiges Handeln erzürnt hatte, nein, sein geheimer Raum war auch noch entdeckt worden. Als er heute Morgen Heerführer Bajan und den Thronfolger bei ihren Nachforschungen beobachtet hatte, war er zu Tode erschrocken gewesen. Sobald sie fort gewesen waren, hatte er, so schnell er konnte, den Turm geräumt. Zum Glück waren die Wachen alle beim Hauptmann gewesen und hatten seinen Erzählungen gelauscht. Um das Ganze noch zu krönen, fand die Expedition trotzdem statt, seine Intervention war also völlig umsonst gewesen. Der Meister hatte recht gehabt.
Nun brauchte er einen neuen Unterschlupf. Dies war aber nicht einfach, denn im Palast waren die Möglichkeiten, unentdeckt zu bleiben, rar. Er würde sich wohl ein Haus in der Stadt suchen müssen. Das hieß aber auch, dass er jeweils für längere Zeit abwesend war, und dies könnte jemandem auffallen.
Dieser verfluchte Bajan! Das würde er ihm büßen! Doch halt – ihm fiel eine andere Möglichkeit ein. Schnell legte er seinen Umhang um und holte die Maske aus seinem Versteck hervor. Es war an der Zeit, Alia einen weiteren Besuch abzustatten.
Alia hatte sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Sie lag in einem mit warmem duftendem Wasser gefüllten Becken und genoss die ruhigen Momente ohne irgendeine Gesellschaft. Träge strich sie mit der Hand über das kostbare Mosaik. Ihr Plan war gelungen, Currann würde auf Expedition gehen. Geschehen konnte auf einer solchen Reise viel, es wäre daher nicht verwunderlich, wenn sich irgendein Unfall ereignen und er zu Schaden kommen würde.
Aber geschickt einfädeln musste sie es, damit kein Verdacht auf sie fiel. Alia lachte auf. Wenn Nusair dachte, sie würde sich ewig mit der Rolle der Geliebten des Königs zufriedengeben und seinem Zweck dienen, dann hatte er sich gründlich getäuscht. Sie wollte mehr, sie wollte herrschen. Dazu gehörte aber auch, dass sie die legitimen Herrscher ausschalten musste. Und eigene Nachkommen gebar.
Eine perfekte Verbündete, voller Hass auf die Königin und ihre Kinder, hatte sie bereits gefunden. Sie hob den Kopf, denn im Vorraum war zu hören, dass die Dienerin jemanden einließ. Brida war mal wieder überpünktlich, dachte sie und verließ bedauernd ihr warmes Bad. Heute Abend würde sich zeigen, wie perfekt sie geeignet war.
Als sie sich abgetrocknet und angekleidet hatte, entließ sie die Dienerin und forderte Brida auf, ihr in ihren Studierraum zu folgen. Hier gab es, anders als sonst in solchen Räumen, keine Fenster oder gar versteckte Zugänge, die einen heimlichen Zuhörer verbergen konnten.
Alia reichte Brida einen Becher Wein, aber ohne speziellen Inhalt. Brida ließ sich nicht so einfach täuschen wie die anderen, dachte Alia, das machte sie als Verbündete so wertvoll.
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