Doch zu ihrer Überraschung wandte sich Naluri nicht dem großen Eingangstor zu, sondern zerrte sie zu dem ihr wohlbekannten Gang. Als sie schließlich in dem Raum mit der Feuerstelle standen, wagte Althea zu fragen: „Warum gehen wir in die Häuser der hl. Asklepia?“
Naluri drehte sich wie vom Donner gerührt um. „Woher weißt du, wohin wir durch diesen Raum gelangen können?!?“
Althea entschied sich für die Wahrheit. Sie hatte ihre Tante genug verärgert. „Phelan und Currann kennen den Gang schon länger. Sie haben ihn mir gezeigt.“ Was machte es schon, dass ihre Tante es erfuhr, Currann war schließlich weg und Phelan auf der Heerschule. Er hatte auch keine Zeit mehr für sie.
„Ich fasse es nicht! Woher habt ihr den Schlüssel zu dem Raum?“
Althea blickte ihre Tante mit ehrlichen Augen an. „Ich weiß es nicht, wirklich. Die Jungen hatten ihn irgendwoher besorgt.“
Naluri schloss die Augen. Hinter ihrer Stirn hämmerte es wie verrückt. „Nun, diese Ausflüge werden ein Ende haben, das ist sicher“, sagte sie entschlossen.
Plötzlich fühlte Althea sich sehr allein. Ihr kamen die Tränen. „Bitte, Tante Naluri, erzähl Vater nichts von meinem Benehmen, ich werde mir mehr Mühe geben, versprochen.“
Naluri wollte sich gerade in die Feuerstelle begeben, zögerte aber und kniete sich dann vor Althea hin, damit sie ihr direkt in die Augen sehen konnte. „Althea, wir versuchen jetzt seit einer Woche, irgendwie mit dir auszukommen, aber es scheint zwecklos zu sein.“ Althea wollte widersprechen, schließlich trug Lelia ihren Teil dazu bei, aber Naluri hielt sie mit einer Handbewegung zurück. „Ich sehe, dass du anders bist als die Zwillinge, aber du kannst dich einfach nicht beherrschen. Ich werde aber das Versprechen, das ich deinem Vater gegeben habe, nicht brechen.“ Sie schloss kurz die Augen.
„Geht es dir nicht gut, Tante Naluri?“, fragte Althea besorgt.
Naluri lächelte sie seltsam an. „Du verursachst mir Kopfschmerzen, deswegen werden wir jetzt die ehrwürdige Mutter Klesa aufsuchen, damit sie mir ein Mittel dagegen gibt.“ Damit stand sie auf und zog Althea hinter sich her in die Feuerstelle.
Während sie den Gang entlanggingen, drehten sich Naluris Gedanken um die letzte Woche. Sie war wahrhaft nervenaufreibend gewesen, angefangen mit dem Tag vor der Abreise der Expedition. Currann und Phelan waren wie ein Sack Flöhe herumgesprungen und hatten dem gesamten Haushalt derart zugesetzt, dass sie sich gezwungen sah, Currann schon am selben Tag ins Lager der Saraner zu schicken, damit er bei Jeldrik übernachten konnte.
Phelan war schmollend zurückgeblieben und den restlichen Tag nicht mehr aus seiner Kammer aufgetaucht. Zur Strafe hatte sie beschlossen, dass Phelan nicht dem Auszug der Expedition zuschauen durfte, sondern nach dem Unterricht bei Thorald gleich in die Heerschule gehen musste. Von dort kam er seitdem abends schmutzig, erschöpft und äußerst einsilbig wieder nach Hause.
Am nächsten Nachmittag war dann Althea erschienen und das Chaos vollends ausgebrochen. Vollkommen rastlos wegen der Abwesenheit der Jungen war sie von ihr und Yola nicht zu bändigen gewesen.
Im Laufe der Woche hatte insbesondere Lelia so manches Scharmützel mit Althea ausgetragen. Naluri dachte an die Szene, in der Althea Lelia derart zugesetzt hatte, dass diese in lautes Weinen ausgebrochen war. Und das alles nur, weil sie über einen Fleck auf Altheas Kleid gelacht hatte. Leanna kam mit ihrer Cousine besser zurecht, sie hatte wesentlich mehr Geduld, versuchte ihr stets zu helfen und ausgleichend zwischen den beiden zu stehen.
Lelia war dafür einfach zu hochmütig und ließ Althea bei jeder Gelegenheit ihre vermeintliche Unterlegenheit spüren. Gezielt traf sie dabei den wunden Punkt in Altheas Charakter, ihren Stolz. Althea wird lernen müssen, sich zu beherrschen, oder sie wird immer verlieren, dachte Naluri, während sie die Treppe hinabstiegen.
Sie musste auch ein verstärktes Auge auf Lelias Entwicklung haben, denn diese glich im Charakter ihrem Vater immer mehr. Um Leanna machte sie sich dagegen keine Sorgen, sie war bereits jetzt ein kluges, ausgeglichenes Mädchen.
‚Wie sehr man bereits in diesem Alter die jeweiligen Charaktere und den weiteren Weg der Kinder erkennen konnte’, sinnierte Naluri.
Die missgünstige Intrigantin, der sanfte Engel und die mutige Kriegerin.
Naluri blieb unvermittelt stehen und blickte abwesend in die Dunkelheit. Diese Erkenntnis traf sie mit voller Wucht. Als hätte sie Lelia bereits verurteilt.
„Tante Naluri, was ist denn?“ Althea zupfte an ihrem Ärmel. Naluri schreckte auf und legte Althea mehr zu ihrer eigenen Beruhigung die Hand auf die Schulter. „Es ist nichts, mir ist nur gerade etwas eingefallen. Komm, dort hinten ist schon der Ausgang.“
Sie traten in eine große Höhle, vor der der Wasserfall den Felsen hinunterstürzte. Ein überdachter Steg führte durch den Wasserfall und endete hinter einem dichten Gebüsch.
An einem Haken davor hingen ein blauer Umhang und ein Vollschleier in derselben Farbe, wie ihn die festen Schwestern des Ordens trugen. Naluri legte beides an und zog Althea ihre Kapuze über. „So erkennt uns niemand“, sagte sie. Althea konnte nur noch ihre Augen durch die Sehschlitze des Schleiers erkennen.
Als sie den Steg überquert und um den Busch herumgeschritten waren, standen sie im hinteren Ende der hängenden Gärten. Althea sah sich aufmerksam um, denn hierher hatte sie sich noch nie gewagt. Zwar hatte sie die Gärten schon oft von der oberen Stadtmauer aus bewundert, aber von innen wirkten sie ganz anders.
Die Felsen waren überwuchert von Flechten, Farnen und Moosen. Efeuranken verteilten sich über die äußere Mauer und schlängelten sich weit am Felsen hoch. Kein Wunder, dass die Gärten von unten wie aufgehängt wirken, dachte Althea. Es roch sehr frisch hier, überall tröpfelte es aus Felsspalten hervor. Die Wassertropfen wurden von einer am Felsen entlanglaufenden, steinernen Rinne aufgefangen.
Sie erblickte mehrere Dutzend Hochbeete, die Umfassungen dicht geflochten aus Schilfrohr und bestückt mit allen möglichen Kräutern. Auch Gemüse war darunter, staunte sie. Kaum jemand in der Stadt baute Gemüse selbst an, es wurde in den umliegenden Senken angebaut und auf den vielen Märkten der Stadt verkauft. Es musste eine besondere Bewandtnis damit haben.
Des weiteren gab es viele Bäume, besonders Weiden und Nadelbäume, von denen sie die Namen nicht wusste. Sie wirkten etwas deplatziert und hässlich, denn um sie herum wuchs nichts, und die unteren Zweige fehlten. Althea wunderte sich, wozu das wohl gut sein sollte. Gespannt folgte sie ihrer Tante.
Naluri ging zügig auf die Gebäude zu, die sich um einen großen, u-förmigen Hof gruppierten. Bänke standen in geschützten Nischen, auf denen auch heute einige Kranke in der warmen Herbstsonne saßen, und es gab sehr viele Blumen und einen Springbrunnen, der beruhigend vor sich hinplätscherte. Staunend blieb Althea davor stehen. Die Figur auf dem Brunnen, eine Frau, wirkte sehr lebensecht. Sie stand in einem Tor und hielt die Hände von mehreren Verwundeten, die sich an ihre Hand klammerten. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Leid, aber auch Güte ab. Sie trug ein weites Gewand, wie es Althea noch nie zuvor gesehen hatte.
„Das ist die hl. Asklepia“, erklärte Naluri. „Wenn Zeit ist, wird dir die ehrwürdige Mutter sicherlich die Legende erzählen. Doch nun komm mit.“
Althea folgte ihrer Tante in den Innenhof des Gebäudes. Die Kranken grüßten die verschleierte Frau ehrfürchtig, wurden doch alle festen Ordensmitglieder vom Volke besonders verehrt. Naluri stieg eine kurze Treppe hoch und gelangte zu einem Gang, von dem nur eine Tür abging. Naluri sah ihre Nichte streng an. „Dies ist der Empfangsraum von Klesa, der ehrwürdigen Mutter des Ordens. Benimm dich!“ Sie klopfte an, und eine tiefe Stimme rief sie herein.
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