Anwyll erhob sich aufstöhnend. „Oh meine Knie! Komm, mein Sohn, hilf mir die Treppe hinunter. Wir verlassen nun diesen Ort.“
Currann bat Bajan darum, den Rest des Nachmittags im Haus des Wissens verbringen zu dürfen. Es war eine Bitte, die ihm gerne gewährt wurde, wollte Bajan sich doch mit der Königin besprechen. So folgte der Junge den beiden Gelehrten nach Hause. Er wollte endlich sein Päckchen loswerden. Aufgeregt stürmte er den Männern voraus in die Diele des Wohntraktes.
„Musst du mich so erschrecken?“, rief Lusela und stellte den Becher wieder hin, der ihr umgefallen war.
„Wo sind die anderen?“, fragte er ungeduldig.
„Na wo schon, entweder im Garten oder im Schulraum. Den Weg wirst du wohl noch kennen, oder?“
Kopfschütteln sah Lusela ihm hinterher, wie er laut rufend in den Garten rannte. Der ältere Sohn der Königin war ihr entschieden zu fordernd, befand sie. Aber das musste er wohl auch sein, wenn er König werden wollte. Sie zuckte mit den Schultern und begrüßte die Männer.
Currann hatte unterdessen seine kurze Suche im Garten erfolglos beendet. Als er zurück in den Innenhof lief, erschienen Phelan und Althea gerade im Torgang.
„Was ist denn los? Warum schreist du so rum?“, wollte Phelan wissen. Sie hatten genau den Zeitpunkt abgepasst, ungesehen aus ihrer Tür zu kommen, als er im Garten gewesen war.
„Los, kommt!“ Currann zerrte sie die Treppe zum Schulraum hinauf. „Ihr ratet nie, was heute alles passiert ist!“
Atemlos ließen sie sich auf ihren Stühlen nieder. Currann berichtete ihnen, was sie im Turm entdeckt hatten. Nur die Besprechung bei der Königin ließ er wegen seines Versprechens aus.
Althea unterdrückte ein Schaudern, als sie von dem Hexagramm hörte. Doch Phelan war mit seinen Gedanken ganz woanders. „Du darfst mit auf die Expedition?“ Er war fassungslos. „Warum ich nicht?“
„Du bist noch zu jung“, erwiderte Currann, und es gelang ihm nicht ganz, seine Zufriedenheit darüber zu verbergen. Phelan blitzte ihn wütend an. „Mutter wollte auch erst nicht, dass ich mitgehe, aber Vater hat darauf bestanden.“ Phelan verschränkte schmollend die Arme und sagte nichts.
Althea sah ihren älteren Cousin misstrauisch an. „Du bist doch nicht nur hierher gekommen, um Phelan das unter die Nase zu reiben, oder?“
Currann musste grinsen. „Jaaa, stimmt. Jeldrik hat sich bei mir verabschiedet, sie wollen die restliche Zeit im Lager verbringen.“
„Ach schade!“ Althea war enttäuscht. „Es fing gerade an, so richtig Spaß zu machen. Aber warum freust du dich darüber so? Magst du ihn nicht?“
„Doch, natürlich. Es ist nur so ..“, er zog das Päcken hervor, das er die ganze Zeit vor ihnen verborgen hatte, „er hat mir ein Geschenk für uns alle mitgegeben.“
Phelan und Althea machten große Augen. „Und das sagst du erst jetzt?!“ Vorsichtig hob Althea das Päckchen an. „Es ist schwer!“
„Los, schnell aufmachen!“ Phelan vergaß, dass er eigentlich schmollte. Ungeduldig zog er an den Lederschnüren. „Oh, seht euch das an!“, rief er, als er das Leder vorsichtig auseinander wickelte. Drei identische kleine Messer mit Holzgriffen lagen vor ihnen auf dem Tisch. Sie steckten in schlichten, aber sehr aufwendig verarbeiten Lederscheiden, die mit einem schmalen Gurt verbunden waren.
„Das ist doch nicht etwa ..“ Currann zog ein Messer heraus. „Doch, seht nur, sie sind aus Ferrium!“
Augenblicklich hatte jeder von ihnen ein Messer in der Hand und drehte die wie magisch glitzernden Waffen bewundernd im Sonnenlicht hin und her.
„Das darf Lusela niemals zu Gesicht bekommen, sie nimmt es mir sofort weg“, stellte Althea nüchtern fest. „Wollen wir unsere Namen in den Griff ritzen, damit wir sie nicht verwechseln?“
„Der Anfangsbuchstabe genügt.“ Phelan schritt gleich zur Tat und hatte im Nu die Buchstaben in die Griffe geritzt.
„Wo trägt man so etwas, Currann?“, fragte Althea.
„Das ist eine versteckte Waffe“, überlegte er. „Entweder im Stiefel oder an der Hüfte unter der Kleidung verborgen. Einige Männer tragen ihn auch am Arm. Lass mal sehen.“
Sie hielten Althea das Messer an und entschieden sich dann, dass sie es an ihrem Oberarm befestigen sollte.
„Mit deinem Kleid kommst du an die anderen Stellen nicht schnell genug heran, ohne dass es unschicklich ist“, stellte Phelan fest. Er selbst hatte ebenfalls das Messer am Arm unter seiner Tunika befestigt, und auch Currann entschied sich für diese Variante. Sie überprüften gegenseitig, ob man es nicht sehen konnte. Zufrieden sahen sie sich an. „Das Messer werden wir ab jetzt immer tragen“, sagte Phelan. Currann und Althea nickten feierlich.
Während die drei im Schulraum ihren neuen Schatz ausprobierten, packte Anwyll im Gästequartier seine Sachen. Thorald lehnte an der Wand und unterhielt sich mit ihm. „Ich werde Roar noch heute aufsuchen, tut mir leid, mein Junge, die Sache duldet keinen Aufschub.“
„Selbstverständlich, Meister Anwyll, das sehe ich ein, auch wenn es mir schwerfällt. Unsere Gespräche haben mir in den letzten Jahren sehr gefehlt. Eure Zeit war viel zu kurz hier.“
Lusela brachte Anwyll einen Stapel frisch gewaschener Kleidung. „Aber du bist hier ja in guten Händen“, meinte dieser mit einem freundlichen Blick auf Lusela. Sie errötete und verschwand wieder in die Küche.
Thorald wartete, bis er sicher war, dass sie nichts mehr hören konnte. „Mir geht Altheas Traum nicht aus dem Kopf, Meister Anwyll. Ich muss gestehen, dass ich zutiefst erschrocken bin.“ Er rieb sein Gesicht zwischen den Händen.
Anwyll hielt mit dem Packen inne und sah ihn verständnisvoll an. „Das wäre ich auch, wenn es meine Tochter wäre.“
„Aber warum träumt sie es ausgerechnet jetzt?“, fragte Thorald.
„Jemand hat heute Nacht Schwarze Magie angewendet, soviel steht fest. Vielleicht ist sie empfänglich für solche Strömungen, wer weiß? Wenn das wahr sein sollte, dann hat deine Tochter weit mehr Fähigkeiten, als wir uns bisher vorstellen können. Das ist dir doch klar? Selbst ich habe heute Nacht nichts gespürt.“ Anwyll beobachtete Thoralds Reaktion aufmerksam. „Althea muss spätestens mit zwölf Jahren zu uns kommen. Versprichst du mir das?“, forderte er.
Thorald schloss kurz die Augen und nickte dann. „So schwer es mir fällt ..“ Er hielt inne, denn auf dem Gang waren schnelle Schritte zu hören.
„Was ist mit mir?“, rief Althea.
„Ich soll gut auf dich aufpassen, hat Meister Anwyll befohlen.“ Thorald wuselte ihr durchs Haar.
„Kann ich doch selbst, oder etwa nicht?“ Sie lachte zu Anwyll auf. „Wollt Ihr schon fort?“
„Ja, Mädchen, die Pflicht ruft. Aber du musst mir etwas versprechen.“ Althea blickte ihn aufmerksam an und nickte. Dem weisen Mann konnte sie nichts abschlagen. „Schreibe alles auf, was du träumst, und gib es an deinen Vater weiter. Er wird dafür sorgen, dass ich es bekomme. Und lasse nichts aus, auch wenn es noch so abwegig ist, versprochen?“ Die alten Augen blickten gütig auf sie herab, aber auch irgendwie zwingend. Es war ein Blick, dem man nicht widerstehen konnte.
Althea wagte es dennoch, eine Frage zu stellen. Wissbegierig wie ihr Vater früher, dachte Anwyll wehmütig. „Warum sind meine Träume so wichtig, dass Ihr sie über eine so weite Strecke schicken wollt?“, fragte sie und setzte sich aufs Bett.
Thorald setzte sich neben sie. „Das, was du gestern geträumt hast, ist wirklich eingetreten. Die Flut hat es wirklich gegeben.“
„Dorthin geht Currann also mit“, verstand Althea plötzlich. Sie wurde blass. „Es ist gefährlich an diesem Ort! Er sollte nicht dorthin gehen!“
„Keine Angst“, beruhigte Anwyll sie, „ich werde ihn begleiten.“
Vertrauensvoll sah sie zu ihm auf. „Wenn Ihr dabei seid, dann kann ihm nichts geschehen. Das weiß ich.“ Davon war sie felsenfest überzeugt.
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