In der Diele saßen Thorald und Anwyll zusammen und analysieren Altheas Traum. Jedweder Art von Träumen wurde von allen Temorern eine große Bedeutung beigemessen, und dementsprechend erst nahmen die beiden es.
„Ich glaube, dass es eine wirkliche Vision war“, meinte Anwyll nachdenklich. „Sie war kalt, das kommt nur bei der Berührung mit dem Übersinnlichen vor.“
„Meister Anwyll, sie ist doch noch viel zu jung für solche Dinge“, wandte Thorald ein.
„Du weißt, dass das nicht stimmt“, tadelte Anwyll nachsichtig. „Dir ist nur nicht wohl bei dem Gedanken, sie bald fortzugeben, gib es zu. Schließlich gibt es in der Gemeinschaft eine Vielzahl Kinder, die schon in wesentlich jüngeren Jahren derartige Begabungen erkennen lassen, und außerdem, unsere Gelehrten schreiben Mischlingen zwischen den Gildaern und unserem Volke besondere Fähigkeiten zu. Sie sollte auf jeden Fall in der Gemeinschaft unterrichtet werden, wenn sie älter ist. Ich bin mir völlig sicher, dass sie die Aufnahmeprüfung bestehen wird.“
Thorald gab sich geschlagen, ließ sich aber nicht festlegen. „Das wird auf jeden Fall geschehen“, sagte er ausweichend und schenkte sich noch einen Kaffee ein.
Lusela räumte derweil das Frühmahl ab. „Ich glaube, dass es nur ein böser Traum war, ausgelöst durch die Geschichte ihrer Mutter. Also ehrlich, Meister Thorald, sie ist noch viel zu jung für dieses Wissen!“, entrüstete sie sich und ging in die Küche.
Anwyll nickte. „Jung ist sie in der Tat noch für eine solche Last. Aber das, was sie geträumt hat, schien mir doch merkwürdig real. Du musst sie, sobald sie alt genug ist, nach Temora schicken. Daran geht kein Weg vorbei. Spätestens mit zwölf Jahren sollte sie bei uns sein, wie alle anderen auch, die von uns ausgebildet werden.“
„Wir werden sehen .. Ich denke, wir sollten jetzt zu der Ratssitzung aufbrechen. Seid Ihr einverstanden?“, lenkte Thorald von dem ihm unliebsamen Thema ab. Anwyll sah ein, dass es keinen Zweck hatte, weiter in ihn zu dringen, und nickte. Sie verließen das Haus.
Lusela blieb unbehaglich in der Küche zurück. Dass der fremde Priester ihrer Kleinen heidnische Kräfte zutraute, fand sie einfach unglaublich. Sie liebte sie über alles, als wäre sie ihre eigene Tochter. Trotzdem oder gerade deshalb beschloss sie, künftig ein wachsameres Auge auf das Mädchen zu haben.
Currann befand sich derweil in der Heerschule und lauschte Bajan, der ihm erläuterte, wie größere bewegliche Heere verpflegt wurden. Sie saßen in einer geschützten Ecke des Innenhofes, denn nach dem gestrigen Sturm schien zwar die Sonne, aber der Wind pfiff unangenehm kühl den Berg hinauf. Der Herbst war endgültig gekommen, soviel stand fest. Sie waren gerade dabei, die verschiedenen Verpflegungsarten zu erörtern, als sich der Hauptmann der Wache den beiden näherte.
„Verzeiht die Unterbrechung, Fürst“, sagte der Hauptmann steif und entbot Bajan den Heeresgruß. Dieser forderte den Hauptmann mit einer Handbewegung zu sprechen auf.
„Einer unserer Wachsoldaten hatte gestern Nacht bei dem Sturm etwas Ungewöhnliches beobachtet. Er musste austreten und ging zu diesem Zweck auf die Palastmauer. Selbstverständlich habe ich ihm einen Tadel dafür erteilt, aber es war viel zu stürmisch zu dem Zeitpunkt, um ganz bis in die Kaserne zu laufen“, wandte er hastig ein, als er sah, dass Bajan die Stirn runzelte.
„Berichtet weiter, aber fasst Euch kurz“, forderte er den Hauptmann auf. Er kannte die weitschweifigen Erzählungen seines Untergebenen.
„Der Soldat sah eine dunkle Gestalt, die ohne Licht durch die Gärten des Palastes lief.“
„Und dafür sucht Ihr mich auf?“, fragte Bajan ungläubig.
Der Hauptmann verteidigte sein Handeln: „Kurze Zeit später sahen die Soldaten blaue Lichter auf der Mauer tanzen, ziemlich genau in der Nähe der Stelle, wo die Gestalt gesichtet worden ist. Es war wie mitten im Gewitter, aber ganz sicher keine Blitze.“
„Hmm, das ist in der Tat merkwürdig“, sagte Bajan und strich sich nachdenklich über seinen Bart. Dann sah er Currann an. „Was würdest du tun?“, fragte er ihn.
Currann dachte kurz nach. „Die Lichter müssen die Männer geängstigt haben, daher würde ich persönlich nach dem Rechten sehen, um sie zu beruhigen“, sagte er schließlich, um auch seine eigene Neugier zu befriedigen.
„Sehr gut“, nickte Bajan und zwinkerte ihm unmerklich zu, „und dann?“
Currann sprang aufgeregt auf. „Ich möchte den Wachsoldaten sprechen, der die Gestalt gesehen hat!“, forderte er den Hauptmann auf.
Dieser stellte die Anordnung des Thronfolgers nicht infrage, denn Bajan hatte ihn schon oft vor solche Aufgaben gestellt. „Folgt mir bitte, Hoheit, er ist in der Kaserne.“
Sie gingen zügig in das Gebäude auf der anderen Straßenseite. Im Erdgeschoss des mehrstöckigen Gebäudes drang Lärm aus den Mannschaftsräumen. Der Hauptmann verschwand und kam kurz darauf mit einem untersetzten, älteren Mann zurück, der verlegen vor der Ansammlung so wichtiger Persönlichkeiten grüßte. Bajan sah Currann auffordernd an.
„Zeigt uns bitte die Stelle, an der Ihr gestern Nacht die Gestalt gesehen habt, und am besten auch gleich, wo die Lichter aufgetaucht sind“, richtete Currann das Wort an den Soldaten.
Dieser nickte und führte Currann und Bajan die Straße hinauf. Sie passierten das große Tor der Festung und stiegen eine enge Treppe links vom Tor hinauf auf die Festungsmauer.
Er führte sie zu dem vordersten Turm auf der linken Seite. Das Gebäude des Einen Tempels lag schräg vor ihnen. Currann konnte von hier sowohl in den Innenhof des neben dem Tempel gelegenen Klosters als auch über die Palastgebäude und die Festungsmauer entlang bis hin zu dem letzten Turm sehen, der ganz hinten im Palastgarten lag. Es gab auf der ganzen Festungsmauer insgesamt neun dieser mächtigen Türme, jeweils drei auf der Nord- und Südseite, einer ganz hinten in der Mitte und zwei, welche den Zugang zu der Festung bewachten. Sie waren Schutz für die Bewohner wie für Reisende gleichermaßen mit ihren weithin sichtbaren Signalfeuern.
„Wir vier Wachhabende für diesen Abschnitt hatten uns in den Schutzraum des Turmes zurückgezogen, als der Sturm losbrach“, erläuterte der Soldat. „Ich bin gegen Mitternacht kurz raus, da war der Sturm richtig schlimm, und habe etwa hier vorne gestanden und .. naja, auf jeden Fall sah ich, wie jemand mit einem langen Umhang dort drüben zwischen den Arkaden erschien und nach hinten in den Palastgarten verschwand. Mehr konnte ich nicht erkennen, es war zu dunkel und stürmisch.“
Currann überlegte und sah dann Bajan an. „Dort befindet sich der hintere Ausgang aus der großen Halle, gleichzeitig aber auch der Zugang zu den Gemächern des Königs.“ Er wandte sich wieder an den Soldaten: „Und wo sind die Lichter dann erschienen?“
Der Soldat wand sich sichtlich verlegen. „Dort hinten, in etwa der Höhe des letzten Turmes, ungefähr eine halbe Stunde später. Es waren keine Blitze, sie waren zu lang dort. Sie waren blau, Hoheit. Das war das Unheimliche. Grüne Elmsfeuer oder helle Kugelblitze haben wir ja schon eher mal während eines Staubsturms oder eines Gewitters gehabt, aber so etwas noch nicht.“
„Es ist gut, ich danke Euch“, sagte Currann und entließ sowohl den Hauptmann als auch den Wachsoldaten.
„Gut gemacht“, lobte ihn Bajan. „Du hast ihnen zugehört, ihnen die Sorgen abgenommen, sie aber nicht an Dingen teilhaben lassen, die sie nichts angehen. Was schlägst du nun vor?“
„Ich denke, wir sollten uns dort hinten einmal umsehen. Es liegt eine Menge Sand dort, vielleicht haben wir Glück und die Gestalt hat Spuren hinterlassen, nicht wahr?“
Bajan stimmte zu. Sie gingen zunächst auf der Mauer entlang bis zu dem Turm in der hinteren Ecke. Er war wie alle anderen Türme auch mit einem Schutzraum auf Höhe der Mauerkrone versehen, hatte oben drauf einen Brennplatz für das Signalfeuer, und unten führte eine Tür ins Erdgeschoss des Turmes.
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