„Warum sollte jemand so etwas tun? Vater, wem hatte sie etwas getan?“, rief Althea.
Thorald schüttelte traurig den Kopf. „Wir wissen nicht, was damals genau passiert ist. Aber seitdem isst deine Tante keine separierten Speisen und auch ihr seid nur bei den Banketten anwesend, wenn gleichzeitig Gäste bei euch sitzen und sie eure Speisen essen. Begreifst du das?“
Althea nickte langsam. „Ja, Vater.“ Sie sah ihn ängstlich an. „Bist du auch in Gefahr? Vater, das macht mir Angst!“
Thorald drückte sie beruhigend an sich. „Das glaube ich nicht, hab keine Angst. Wir haben alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, uns wird nichts geschehen. Solange du in unserer Nähe bleibst, passiert dir nichts, versprochen.“
„Und ich dachte, ich muss jetzt diesen Mädchenkrams lernen, weil ich immer so unartig bin!“ Althea lächelte schon wieder.
„Natürlich bist du unartig, zumindest in gildaischen Augen. Aber deswegen liebe ich dich umso mehr, verstanden, kleiner Kobold?“
„Dann ist ja gut“, sagte Althea und schloss die Augen „Ich hab dich auch lieb“, murmelte sie noch und war gleich darauf eingeschlafen.
Thorald schloss leise die Tür zu ihrer Kammer und war nicht im Mindesten überrascht, Lusela davor vorzufinden.
„Meint Ihr nicht, dass dieses Wissen ein wenig zu viel ist für so ein kleines Mädchen?“, tadelte sie ihn leise, und sie gingen gemeinsam in die Diele. Sie verstand nach all den Jahren in seinen Diensten zumindest so viel Temorisch, dass sie den Inhalt des Gespräches erfasst hatte.
Thorald war sich inzwischen absolut sicher. Die Reaktion seiner Tochter bestätigte ihn darin, dass sie alt genug war. „Sie musste dies erfahren, damit sie begreift, warum wir das alles tun. Hab aber trotzdem ein Auge auf sie heute Abend, vielleicht hat sie Albträume.“
Lusela seufzte. „Arme Kleine, das war ein aufregender Tag für sie. Wann beginnt der Unterricht bei der Königin?“
„Wir warten, bis die Gesandtschaft abgereist ist, vorher ist keine Zeit. Behalte sie morgen hier im Haus, Phelan wird auch heruntergeschickt. Ich lege für die beiden gleich noch ein paar Aufgaben zurecht und kleide mich dann für das Bankett um.“ Er ließ Lusela mit traurigen Erinnerungen in der Diele zurück.
Spät nachts zog ein Sturm auf und peitschte über Gilda, aber es regnete nicht, sondern er fegte nur große Mengen Staub heran, wie sooft. Die Bewohner verkrochen sich in ihren Häusern, froh, einen geschützten Raum zu haben. Die Signalfeuer erloschen, und auch die Wachen zogen es vor, ihre Rundgänge auf ein Minimum zu beschränken.
Gerade richtig, dachte der dunkle Schatten, als er sich dem hintersten Turm der Festung näherte, zu dem er heimlich den Schlüssel entwendet hatte. So wurde er wenigstens von niemandem gesehen, wie er seine geheime Kammer aufsuchte. Er musste dringend Verbindung zu seinem Meister aufnehmen, dafür konnte er wahrlich keine Zeugen gebrauchen. Schnell schlüpfte er durch die Tür und schloss wieder hinter sich ab. Erst jetzt getraute er sich, eine Lampe zu entzünden, und stieg die Treppe nach oben. Da der Turm keine Fenster hatte, konnte man das Licht von außen nicht sehen.
Zum Glück hatte das Bankett vorhin nicht allzu lange gedauert, da sich alle beeilt hatten, noch rechtzeitig vor dem Sturm nach Hause zu kommen. Es war eh ereignislos gewesen im Vergleich zu dem Empfang am Tag zuvor, nur höfliche Floskeln und dummes Geschwätz.
Er stellte die Lampe auf den Tisch und machte sich an die Vorbereitungen. Das Blut von drei geschlachteten Hühnern hatte er bereits gestern beschafft, als bekannt wurde, dass kein Geringerer als Anwyll von Temora angereist war und mit Sicherheit wichtige Neuigkeiten mitbrachte.
Sie waren so wichtig, dass er jetzt seinen Meister von sich aus rufen musste. Rasch füllte er das Blut in die sechs Vertiefungen, die die Ecken eines in den Boden gemeißelten Hexagramms ausfüllten. Das Blut lief ohne Stocken über in die Linien. Gleich darauf glänzte das frische Hexagramm vor ihm, und er spürte die Macht, die von ihm aufstieg. Es wartete auf ihn.
Bisher war es noch nie vorgekommen, dass er von selbst Verbindung aufnahm, und die Angst vor der Reaktion des Meisters schnürte ihm die Kehle zu. Es nützte aber nichts, denn rasches Handeln war geboten.
Er füllte sich einen Becher Wasser ein und streute eine genau bemessene Dosis Mor hinein. Dann drehte er das Stundenglas um. Das war das Geheimnis, dachte er. Eine Mor - Abhängigkeit sah man einem Menschen nur an, wenn er die Droge in Verbindung mit Alkohol einnahm.
Er holte tief Luft und trank den Becher mit einem Zug leer. Dann trat er in das Hexagramm und wartete, dass die Wirkung einsetzte. Langsam merkte er, wie sein Geist leicht wurde und die Umgebung verschwamm. Dann sprach er die rituellen Worte, ritzte seinen Finger ein und fiel mit dem ersten Blutstropfen auf den Boden, was er aber nicht mehr bemerkte.
Im Geiste erhob er sich, und ein leuchtender Tunnel tat sich vor ihm auf, durch den er mit einem Wimpernschlag hindurch war. Schon sah er den Kohinor in seiner ganzen Pracht vor sich, majestätisch, kalt und grausam und von blauem Wetterleuchten umflossen. Er wusste, dass dort oben, an der von Stürmen umpeitschten Spitze, sein Meister zu finden war, und tatsächlich, als er sich näherte, formierten sich die blauen Lichter zu einem Kreis und die Gestalt des Meisters und seiner Diener wurden sichtbar. Rote Augen glühten ihn aus blau umflossenen Gesichtern an.
‚Was wagst du es, mich unaufgefordert aufzusuchen?’, dröhnte die Stimme des Meisters laut in seinem Kopf. SEIN Rufer wand sich unter Schmerzen, die an seinen Gedanken zerrten.
‚Meister, Anwyll von Temora ist in Gilda eingetroffen. Die Gemeinschaft ahnt etwas. Sie werden eine Expedition zum Kohinor entsenden, wenn wir es nicht verhindern’, stöhnte er.
Eine unbeschreibliche Kälte breitete sich in ihm aus. ‚Du winselnder Narr, glaubst du nicht, das ist mir nicht längst bekannt? Ich hatte dir verboten, mich von selbst zu rufen!’ Der Meister kam drohend näher, die roten Augen glühten stärker und schienen sich bis in seine innersten Gedanken zu bohren.
Der Rufer krümmte sich. ‚Aber was sollen wir tun?’
Der Meister machte eine Handbewegung, und der Mann schrie auf. Sein Kopf schien zerplatzen zu wollen. ‚ICH habe bereits etwas getan, sieh her!’
Eine Flut von Bildern ergoss sich in das gemarterte Hirn, grausame Bilder von rutschendem Schlamm und Geröllmassen, sterbenden Menschen und einer wüsten Landschaft.
Der Meister trat zurück, und der Schmerz im Kopf des Mannes ließ etwas nach. ‚Das ist die Naturkatastrophe, die Anwyll von Temora, der Führer der Narrengemeinschaft, vermutet hat. Eine Katastrophe, in der Tat, denn sie wissen nicht, welche Saat sie trägt!’
‚Meister, Ihr seid allwissend!’, stöhnte der Mann gepeinigt auf. ‚Was soll ich tun?’
‚Du Narr, du weißt, was du zu tun hast, damit die Versammlung rechtzeitig davon erfährt! Und nun verschwinde aus meinem Reich und wage es ja nicht, wieder unaufgefordert hier zu erscheinen!’
‚Meister ich danke dir für deine Geduld’, winselte der Mann. Er erhielt einen eisigen Schlag und kam vor Kälte an allen Gliedern zitternd wieder zu Bewusstsein. Das Stundenglas lief gerade aus.
In ihrer Kammer wachte Althea schreiend auf und weckte damit das ganze Haus. Voller Panik schlug sie um sich, als ihr Vater sie beruhigen wollte. Nur ganz allmählich ließ ihr Zittern nach. Lusela fasste ihr an die Stirn. „Kleines, du bist ja eiskalt!“, rief sie erschrocken. Dabei war es noch warm und stickig in dem Raum, bemerkte Anwyll. Er wechselte einen besorgten Blick mit Thorald.
„Was hast du geträumt?“, fragte ihr Vater vorsichtig.
Althea schluchzte auf. Lusela wollte schon protestieren, hielt sich aber unter Thoralds Blick zurück. „Ich sah eine große braune Flut, viele Menschen schwammen darin und alle sind gestorben!“, brachte sie schließlich hervor.
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