„Kleines, was hast du nur für eine Fantasie!“, entrüstete sich Lusela. „Das kommt von den ganzen Schauermärchen, die Ihr dem Mädchen heute erzählt habt, Meister Thorald!“
Anwyll sah nachdenklich auf das Mädchen, sagte aber nichts. Thorald deckte sie warm zu, gab ihr einen Kuss und wartete neben ihr, bis sie wieder ruhig geworden war.
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Als Phelan am nächsten Morgen in den Wohntrakt vom Haus des Wissens kam, wunderte er sich sehr. Niemand war wach. In der sonst so geschäftigen Küche glühte nur noch ein Rest Torf in der Feuerstelle, ein paar benutzte Becher standen auf dem Tisch, ansonsten war es gespenstisch still. Nanu, dachte er, sonst ist Lusela nach einem solchen Sturm doch immer emsig dabei, das Haus von dem durch alle Ritzen gedrungenen Staub zu befreien? Ratlos sah er sich um.
Die Bewohner hatten allesamt verschlafen. Thorald hatte noch lange wach gelegen und unruhig über das nachgedacht, was seine Tochter von sich gegeben hatte. Auch Lusela war nicht zur Ruhe gekommen, immer wieder war sie aufgestanden und hatte nach Althea gesehen. Anwyll, in schwere Gedanken versunken, hatte gar nicht erst den Versuch unternommen, ins Bett zu gehen, sondern über seinen Aufzeichnungen gebrütet.
Und Althea, Althea schlief wie eine Tote, von unruhigen Träumen geplagt.
Leise machte sich Phelan auf den Weg in Altheas Kammer. Vorsichtig lugte er hinein. Sie war doch tatsächlich noch im Bett, amüsierte er sich und wollte sie schon aus herauskitzeln, als ihm auffiel, dass sie ungewöhnlich blass war und dunkle Ringe unter den Augen hatte. ‚Ist sie etwa krank?’, fragte er sich besorgt und rüttelte sie sachte an der Schulter.
Mit einem plötzlichen Schrei fuhr Althea aus dem Schlaf hoch, sodass Phelan vor Schreck auf seinem Hintern an der gegenüberliegenden Wand landete.
„Oh, musst du mich so erschrecken?!“, rief Althea, die sich sogleich wieder beruhigte, als sie Phelan erkannte.
„Das gilt wohl auch für dich! Was ist denn bloß los bei euch, alle schlafen ..?“ Er brachte den Satz nicht zu Ende, denn die Tür wurde plötzlich aufgerissen. Die beiden zuckten erneut zusammen.
Lusela stand nur mit Nachtgewand und einer Schlafhaube bekleidet in der Tür. „Alles in Ordnung mit dir, Kind?“, rief sie besorgt. Dann sah sie Phelan. „Was tust du denn schon hier, du weckst uns alle auf!“
Phelan erhob sich und rieb sich die schmerzende Kehrseite. „Was heißt hier schon, es ist die neunte Stunde vorbei, und ich soll doch heute hierher kommen!“, verteidigte er sich.
Lusela entfuhr ein Schreckensausruf. „Was, so spät schon? Barmherziger Urian, wir haben verschlafen! Nun, dann rasch alle angezogen! Phelan, würdest du etwas Torf aufs Feuer legen, während ich mich anziehe? Dann geht es mit dem Frühmahl schneller.“ Sie warf noch einen prüfenden Blick auf Althea, die aber mit der ganzen Aufregung schon wieder Farbe im Gesicht hatte und nach ihrer Kleidung suchte. „Nein, nicht die Jungenkleidung!“ Lusela riss die ausgesuchten Stücke an sich und verschwand in ihre eigene Kammer.
Phelan grinste Althea an. „Willst du mir erzählen, was passiert ist?“
„Später, wenn wir alleine sind“, sagte sie und scheuchte ihn aus dem Raum. Phelan lief in die Küche und führte Luselas Auftrag aus. Er fegte sogar den Tisch sauber und deckte ihn, holte einen Kübel frisches Wasser aus dem Brunnen im Garten und setzte das Wasser auf die Feuerstelle, die inzwischen wieder zu munterem Leben erwacht war.
Thorald kam verschlafen in die Diele und betrachte verwundert den Jungen, der die Hausarbeit verrichtete. „Ein denkwürdiger Tag folgt einer denkwürdigen Nacht“, orakelte er und verwuschelte Phelan den kurzen Haarschopf. „Das erzähle ich Yola, dann hat sie bestimmt Arbeit für dich.“ Thorald lachte, als er Phelans entsetzten Blick sah. „Wo ist Lusela?“, fragte er.
„Hier, und .. oh, du hast ja sogar den Tisch gedeckt und Wasser aufgesetzt. Es tut mir schrecklich leid, Meister Thorald“, entschuldigte sie sich hastig und ordnete ihr Kopftuch, „es war eine wahrhaft schlimme Nacht, ich habe kein Auge zugetan.“
Thorald beruhigte sie: „Doch, hast du, wie wir alle, aber erst sehr spät. Ist nicht weiter schlimm, wir müssen ja erst zur Mittagsstunde wieder in der großen Halle sein. Nun denn, ich wecke mal Meister Anwyll auf, von ihm habe ich noch nichts gehört. Und dann essen wir erst einmal in Ruhe.“
„Nicht nötig, das Geschrei der Kinder kann Tote aufwecken.“ Anwyll kam in den Raum. Er sog die Luft ein, denn Lusela hatte inzwischen den Kaffee aufgesetzt. „Hmm, den kann ich jetzt gebrauchen. Meine Kehle ist von all dem Staub wie ausgedörrt. Warum trinken die Gildaer eigentlich keinen Kaffee, Thorald? Ein belebenderes Getränk gibt es morgens nicht.“
Thorald setzte sich und nahm seinen Becher von Lusela entgegen. „Das ist eines der Mysterien, die ich bisher nicht ergründen konnte. Sogar Lusela kommt ohne ihren Kaffee morgens nicht mehr aus. Wenn ich mir vorstelle, morgens verdünntes Bier zu trinken, pfui!“ Anwyll lachte und wandte den Kopf. In der Tür war Althea erschienen und blickte die Erwachsenen merkwürdig verschüchtert an.
„Komm her, kleiner Kobold“, sagte Thorald und steckte die Hand aus. Schnell lief sie in seine Arme und kuschelte sich an ihn. „Alles wieder in Ordnung?“, fragte er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Ja, Vater“, sagte sie leise und setzte sich auf ihren Platz. Phelan blickte sie verwundert an. So kannte er sie ja gar nicht!
Als sie das Frühmahl beendet hatten, brachte Thorald Althea und Phelan hinauf in den Schulraum. „Ihr beide werdet euch heute Vormittag mit den Mathematikaufgaben beschäftigen, die ich euch vorbereitet habe. Ich denke, bis wir aufbrechen, werdet ihr es geschafft haben. Danach widmet euch dem Geschichtsbuch, wir waren beim Dreikönigsjahr stehen geblieben. Lest das Kapitel bis zum Ende durch, morgen werde ich euch abfragen. Wenn ihr dann noch Zeit habt, könnt ihr im Garten spielen. Aber, Phelan, Althea, ihr verlasst nicht das Haus, verstanden?“
Althea nickte. Phelan schaute sie erstaunt an. Keine Widerworte? Es musste wahrhaft etwas Wichtiges passiert sein. Als Thorald den Raum verlassen hatte und auch unten nicht mehr zu hören war, stieß er sie sachte an. „Thea, was ist denn los?“
Althea blickte ihn nicht an, in ihren Augen standen Tränen, und sie schämte sich. Hastig erhob sie sich und lief ans Fenster, damit er nicht sehen konnte, dass sie weinte. Aber Phelan ließ sich nicht täuschen, dafür kannte er sie zu gut. Vorsichtig legte er ihr den Arm um die Schultern. Sie brach in wildes Schluchzen aus. Sie setzten sich unter dem Fenster auf den Boden, und Althea ließ, den Kopf auf Phelans Schoss gelegt, ihren Tränen freien Lauf.
Nach einiger Zeit hatte sie sich wieder beruhigt und konnte ihm in stockenden, aber zusammenhängenden Sätzen erzählen, was sie gestern erfahren und in der Nacht geträumt hatte.
Phelan war wie vom Donner gerührt. „Das hat Mutter uns nie gesagt“, flüsterte er leise. „Jetzt verstehe ich auch, warum sie solche Angst um uns haben. Wir waren wirklich leichtsinnig, weißt du?“ Althea nickte und putzte sich geräuschvoll die Nase mit einem Taschentuch. „Und ich habe mich schon gewundert, warum du heute so schnell den Anordnungen deines Vaters zugestimmt hast“, fügte er neckend hinzu und stand auf. „Na gut, dann lass uns mal die Aufgaben machen. Die eine Hälfte du, die andere ich, und dann schreiben wir ab, in Ordnung?“ Althea lächelte ihn an. Er hatte so eine Art, ihr über den Kummer hinwegzuhelfen, obwohl er selbst tief getroffen von den Neuigkeiten sein musste.
„Wenn wir fertig sind, gehen wir in unsere geheime Kammer und üben“, schlug sie schon etwas fröhlicher vor. Phelan nickte, froh, dass seine List funktioniert hatte, aber er wusste auch, dass er heute Abend lange über das Erfahrene nachdenken musste. Vielleicht würde er auch Currann einweihen müssen, da war er sich aber noch nicht sicher. Emsig machten die beiden sich daran, die Aufgaben zu lösen.
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