„Du bist aber hungrig“, sagte Christian kalt. Ich aß ungerührt weiter. Das Violinspiel aus Nummer 31 verstummte und Christian begann, mit den Fingern auf dem Tisch herum zu trommeln. Seine Essensreste waren kalt, die Roulade hart und ungenießbar. Ich aß gemächlich, jeden Bissen gut durchkauend, bevor ich ihn herunterschluckte. Ob er Silvie eigentlich noch träfe, wollte ich wissen. Christian meinte nur, das sei Vergangenheit und ich solle mich beim Aufwärmen lieber auf Convenience Food beschränken.
„Ich bin fertig“, sagte ich und legte Messer und Gabel parallel auf den Teller.
Christian sprang auf, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer. Ich hörte, wie er im Nebenzimmer rumorte und wohl seine Sportsachen zusammensuchte, bevor die Tür mit einem Knall hinter ihm ins Schloss fiel. Ich blickte auf die Uhr und nach draußen. Der schmerbäuchige Raucher war verschwunden.
Es war 22.57 Uhr.
Von Alina Becker (Skala)
Feigen reichst du zu Unmerklichkeiten:
Körper klopfen und Augen sehen
Zuviel Altlasten schwängern die Alt-
Bauluft riecht abgestanden, wohl
Verdient, die Lüftung des Gemüts-
Zustandes zeigt Sperrmüllreste
Ausgeschlachtet, zurückgeblieben, nur:
Die Lektüre des einstigen Wortes, das
Nichts sagte, weil Umwelt zu laut schwieg in
Gedankenlosigkeit träufelt Balsamico ins
Säurebad der Unverständigung - Allein der
Zucker schmeckte nach _Zukunft deluxe_
Von Carolin Blenn (Diablesse)
glass splinters lie so deep in your mind
sie knirschen leis, von zeit zu zeit
trittst auf sie beim innengang
schneidest damit die fersen entlang
und gehst fortan auf blutigen sohlen
täuschst dich selbst, unverhohlen
kehrst die scherben, klebst das glas
läufst davon und denkst: das war's.
Von Carolin Blenn (Diablesse)
sich fremd gehen
gegangen, geworden
fremd, als wüsste
keiner so recht,
was gemäß ist,
was nicht
in die fremde gehen
sich verlaufen, es
verlaufen lassen,
gehen, ziehen
lassen, es lassen
lassen
vergebens vergeben
und vergehen
möglichkeiten
die hand ausgestreckt
nach der welt,
gliederlos
Von Carolin Blenn (Diablesse)
Eine der größten Herausforderungen für den modernen Menschen liegt nicht in der Verarbeitung von Leistungsdruck oder in der Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit für alle, sondern im Kofferpacken. Diese Herausforderung nimmt bei Flugreisen eine ganz besondere Gestalt an, da es hier nicht nur darauf ankommt, Kleidung und andere unverzichtbare Artefakte im Gesamtvolumen von 80 Litern in einen Behälter zu quetschen, der 18 Liter fasst, sondern zugleich in der Beachtung der Gewichtsreduktion, die sich aus den jeweiligen Vorgaben der in Rede stehenden Fluggesellschaft ergibt.
Für einen Flug in den sonnigen Süden haben wir, meine Frau und ich, 23 Kilo Freigewicht pro Person, bei insgesamt zwei Gepäckstücken. Nun ist es aber nicht so, dass man in einen Koffer 45 Kilo und in den anderen meine Sachen packen dürfte, sondern so, dass sich die Gewichtsbegrenzung für jeden Koffer einzeln versteht. Das macht die Sache zu einer logistischen Optimierungsaufgabe, auf Deutsch: zu einem Stopfen und Drücken. Wir stopfen und drücken Kleidungsstücke und Sonnenschutz, Badelatschen und Kleinmöbel, Hygieneartikel und noch mehr Hygieneartikel, Zeitschriften, Bücher, CDs, Haushaltswaren, eine Kücheneinrichtung (Eiche furniert), diverse Teile Unterhaltungselektronik, deren Namen ich nicht kenne (irgendwas mit Ei), einen mobilen Herd, eine Kühltasche, Gasflaschen und – wozu auch immer – eine Bastelschere. Ab und an unterbrach ich das Stopfen und Drücken für eine Nachfrage: „Brauchen wir das wirklich?“ – „Was?“ – „Na, zum Beispiel hier – die Bastelschere.“ – „Ja!“ – „Und wozu?“ – „Zum Basteln.“ Logik umweht manchmal eine grausame Kälte.
Das wichtigste Hilfsutensil beim Kofferpacken ist eine Personenwaage, auf die ich mich einmal ohne und einmal mit Koffer stelle. Aus der Differenz errechnen wir das Gewicht des Gepäckstücks (wir sind beide Ingenieure mit Universitätsabschluss). Natürlich darf ich während des Tages nichts trinken oder essen, meine Kleidung nicht wechseln oder gar, Sie wissen schon, auf die Toilette. Morgens wird das Referenzgewicht festgestellt, das im Laufe des Tages als feste Größe dient. Variabel ist das jeweilige Koffergewicht, das durchschnittlich alle drei Minuten ermittelt wird. Oder dann, wenn besondere Packvorgänge abschlossen sind, etwa das Verstauen von schwereren Gegenständern wie Schuhen, Büchern, Kraftfahrzeugteilen und Stahlträgern. Sie mögen es glauben oder nicht: Ein einzelner Stahlträger kann das gesamte Kofferkalkül durcheinanderbringen. Das Gewicht eines Koffers mit zwei Badehosen und einer Hand voll Sportsocken unterscheidet sich signifikant von dem eines Koffers mit zwei Badehosen und einer Hand voll Sportsocken und nur einem einzigen LKW-Kotflügel mittlerer Art und Güte.
Die jüngste Messung meines Koffers ergibt ein Gewicht von 21,8 Kilo. Weil ich seit der Referenzmessung am Morgen gut zwei Liter Flüssigkeit verloren (Stopfen und Drücken strengt an) und nur um 11 Uhr unter Hinweis auf die Genfer Konvention ein kleines Glas Wasser getrunken hatte, lag das tatsächliche Gewicht voraussichtlich bei über 23 Kilo. Sicherheitshalber hole ich einen Gegenstand heraus und wiege nach: 23,4 Kilo. Was physikalisch unmöglich ist, gehört zu den Grunderfahrungen des Kofferpackens. Das Gewicht bewegt sich auch bei strikter Einhaltung aller Ernährungs- und Verhaltensvorschriften in einem stochastischen Korridor, ohne dass sich dabei ein Algorithmus herausschälte. Es konnte demnach gut sein, dass man schweren Herzens auf die Anselm Grün-Gesamtausgabe verzichtete und stattdessen eine „Apotheken Umschau“ mitnahm und dennoch – plötzlich und unerforschlich – eine Gewichtszunahme feststellen musste. „Das kann nicht sein!“, zählt zum Grundvokabular des Kofferpackens.
Ebenso, dass zu den Einsichten des Kofferpackens die Erkenntnis zählt, Reißverschluss leitet sich von „reißen“ ab, genauer: von „an der falschen Stelle reißen“. Als gegen Abend wie durch ein Wunder unsere Koffer doch noch geschlossen werden konnten und wir die zum Bersten gefüllten Gepäckstücke nachwogen (22,7 und 23,0 Kilo), machte ich eine grausame Entdeckung. Ein Blick auf das Ticket verriet, was mich siedend heiß überkommen sollte: Wir hatten 32 Kilo. Jeder. Uns beschlich das grässliche Gefühl, nichts mehr zum Einpacken zu haben, das wir wirklich mitnehmen wollten, und gleichzeitig noch über ein beträchtliches Freigewicht zu verfügen. Wir hatten es bezahlt, wir konnten es aber nicht nutzen. Der Verzweiflung nahe hatte meine Frau, wie so oft, die rettende Idee. Wir haben einfach ein paar Klinkersteine eingepackt. Man weiß nie, wofür man sie gebrauchen kann. Vielleicht ja zum Basteln.
Von Joseph Bordat (JoBo72)
Was ist ein Wort, wenn deine Augen schweigen,
kein Sinn verleiht dem Herzen einen Klang,
wenn müde Stimmen keine Töne fangen,
um alles auszusprechen, was man sagen kann?
Was ist ein Wort, wenn Träume dich vernichten,
kein Lächeln lässt sich wieder auf uns ein,
die Lippen sind ab heute nur noch Lippen
und lassen Schreie nicht mehr Schreie sein.
Was ist ein Wort, wenn Stille sich verbreitet,
Erinnerungen sind seit Langem leer,
die Erde dreht sich ohne Ende weiter,
man sieht die Schönheit der Natur nicht mehr.
Ich will keinen Spruch, der mir hilft zu vergessen,
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