»Ich habe sie mir gebrochen, als ich abgestürzt bin«, zischte Nadim durch die Zähne. Im Licht der Fackel konnte Tavar sehen, dass er Schmerzen hatte. »Ich brauche heißes Wasser. Sieh mal nach, ob du hier irgendwo etwas für ein richtiges Feuer findest.«
Tavar nickte und beeilte sich. Die Höhle war relativ weitläufig, und tatsächlich fand er in einer Nische einen Haufen Zweige und Gras, es sah aus wie das Nest eines größeren Tieres. »Sieh nur, hier muss irgendein Raubtier Unterschlupf gefunden haben. Dort hinten liegen noch Knochen und..« Tavar verstummte, weil sich Nadims Miene verfinsterte. »Tut mir leid«, murmelte er so leise, dass man es gegen den Sturm kaum hören konnte, und begann, das Feuer aufzuschichten. Da plapperte er unnützes Zeug, während Nadim Schmerzen hatte. Er sollte sich lieber beeilen.
Nadim rief sich streng zur Ordnung. ›Lass es nicht an ihm aus‹, mahnte er sich und sah dankbar, wie Tavar ungefragt eine kleine Schale holte und darin Schnee für heißes Wasser schmolz. Saubere Tücher fand er auch. »Halte die Fackel einmal näher«, bat er. Mit zusammengebissenen Zähnen untersuchte er seine Hand. Ein Finger war gebrochen, der Knochen stak sogar durch die Haut. Daher auch das viele Blut.
»Wenn das Wasser warm ist, wasche die Wunde aus, und dann richten wir den Knochen. Hast du so etwas schon einmal gemacht?«
»Nein«, schluckte Tavar und wurde bei dem Anblick ein wenig grün um die Nase.
»Dann wirst du es jetzt lernen. Gib mir etwas zum Draufbeißen, und dann fang an!«
Tavar musste sich zwingen, sich ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren und nicht auf das viele Blut und das Knirschen des Knochens zu achten. Tatsächlich spürte er, wann der Knochen richtig lag und er loslassen konnte, er glitt fast von selbst wieder in die richtige Lage. Auf Nadims Stirn standen Schweißperlen, und er atmete schwer, aber er gab keinen Laut von sich. »Haben wir etwas, womit wir die Wunde richtig reinigen können? Alkohol oder Tee?«, fragte Tavar.
»In meiner kleinen Feldflasche«, presste Nadim hervor und stieß zischend die angehaltene Luft aus.
Tavar reinigte die Wunde mit dem ziemlich scharf riechenden Gebräu und verband auch gleich die Hand. »Ich hoffe, es ist richtig so. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas macht.«
»Es ist schon ganz gut so. Gib mir die Flasche..« Nadim nahm einen tiefen Zug.
»Ist das deine Schwerthand?«, fragte Tavar befangen.
»Ja, ist sie!« Nadim spie ärgerlich einen großen Schluck ins Feuer.
»Tut mir leid«, murmelte Tavar betreten und wollte die Dinge wieder forträumen, aber der Kundschafter ließ ihn nicht gehen.
»Warum entschuldigst du dich dauernd?«
»Ich.. irgendwie bist du sauer auf mich.« Unsicher blickte Tavar auf Nadims gesunde Hand, die ihn immer noch gepackt hielt.
»Doch nicht auf dich, Junge!« Nadim ließ ihn so plötzlich los, dass Tavar das Gleichgewicht verlor und auf seinen Hintern plumpste.
Nadim war angetrunken oder erschöpft oder sogar beides, erkannte der Junge und setzte sich unauffällig ein Stück weiter weg, ohne dass es nach einer Flucht aussah. »Warum? Warum bist du sauer auf dich?«
»Ach!«, machte Nadim ärgerlich und trank noch einen tiefen Schluck. »Ich habe mich geirrt, hielt diese Felsengruppe für eine andere. Niemals hätte ich so schnell bei der schlechten Sicht darauf zureiten dürfen. Die Folgen hast du gesehen. Merke es dir! Und dann hast du mich auf noch einen Fehler gestoßen, ich..«
»Das wollte ich nicht«, entfuhr es Tavar. »Wer bin ich denn, dich zu belehren?«
»Das war keine Absicht, ich weiß. Was glaubst du, haben wir falsch gemacht? Denk mal nach.« Tavar hob nur die Schultern, er wusste nicht, worauf Nadim hinauswollte. »Denk nach. Was hast du in der Höhle gefunden?«
»Oh, du meinst, dass der oder die Bewohner noch hier gewesen sein könnten? Wölfe, eine Raubkatze oder gar ein Bär?«
Nadim schnaubte belustigt. »Bären gibt es in der Steppe nicht, sie finden nicht genug zu fressen. Auf sie stößt du erst weit im Süden, hinter den Sümpfen, oder in den Wäldern des Westens. Aber du hast richtig geraten, gehe niemals in eine unbekannte Höhle, bevor du dich nicht versichert hast, dass sie leer ist. Ich habe nicht aufgepasst, so einfach ist das.«
»Du warst verletzt und hattest Schmerzen«, wandte Tavar ein und stand nun endgültig auf, um die Dinge fortzuräumen. Nadims Selbstvorwürfe waren ihm unangenehm.
»Warte!« Wieder hielt ihn Nadim zurück. »Merke dir: Ein Kundschafter muss immer aufmerksam sein, egal, was kommt. Verstanden?« Er wartete, bis der Junge nickte. »Du hast dort draußen schnell und vor allem besonnen reagiert. Nicht jedem wäre das auf Anhieb gelungen«, fügte er hinzu und ließ ihn los.
Ungläubig stolperte Tavar in die Dunkelheit davon. Er versorgte in aller Ruhe die Pferde, holte neue Zweige fürs Feuer und bereitete ihnen etwas zu essen, während er versuchte, sich zu fassen. Als er fertig war, schnarchte Nadim leise vor sich hin und verschonte ihn mit weiteren Belehrungen. Erleichtert ließ sich Tavar auf der anderen Seite des Feuers nieder. Wann hatte ihm jemand jemals gesagt, dass er etwas gut gemacht hatte? Sein Vater, seine Lehrer, der Minenmeister? Er konnte sich nicht daran erinnern. Langsam, wie er dort nachdenklich saß und sich schließlich in seine Felle einrollte, wich der Schrecken nach und nach, und er fühlte zum ersten Mal seit Langem so etwas wie Stolz auf sich.
»Ähm, Nadim, ich glaube, das Futter für unsere Pferde geht langsam zur Neige«, sagte Tavar am nächsten Morgen, unsicher, ob diese Bemerkung zu anmaßend war.
Nadim war gerade erst aufgewacht und befühlte prüfend seine Hand. Sie schmerzte nur, wenn er den Finger krümmte oder er auf die Wunde fasste. Ein gutes Zeichen. Einen Blick in Richtung des Feuers werfend, entdeckte er ein fertiges Frühmahl, köchelnden Brei und einige gebackene Fladen. Tavar war nicht untätig gewesen, ja, er war sicher, dass sich der Junge dies sogar von ihm abgeschaut hatte. »Das hast du gut gesehen«, lobte er. »Heute Abend wollte ich das Gehöft eines alten Freundes aufsuchen. Er hat mich schon oft beherbergt. Leider sind wir jetzt vom Wege abgekommen und werden etwas länger dorthin brauchen. Meinst du, dass das Futter auch noch bis Morgen reicht?«, fragte er betont beiläufig, die kleine Prüfung, wie weit der Junge denken konnte, geschickt verbergend.
»Doch.. wenn ich es gut einteile, wird es reichen«, sagte Tavar und reichte Nadim eine Schale mit Brei. Der wollte wie gewohnt mit der rechten Hand zugreifen und zuckte schmerzhaft zusammen. Leise schimpfend fasste er notgedrungen mit der Linken zu und schlürfte den heißen Brei, den Tavar gekocht hatte.
»Wie geht es deiner.. äh, Eurer Hand?«
Nadim würgte den Brei herunter und versuchte nicht, seine Miene zu verziehen. Kochen war das Eine, aber es schmackhaft zu machen.. das musste der Junge noch lernen. »Wir lassen es besser bei der informellen Anrede. Das ist mir lieber, schließlich werden wir eine lange Zeit gemeinsam verbringen. Einverstanden?«
Tavar nickte, bemüht, seine Freude nicht allzu sehr zu zeigen. War er jetzt in Gnaden aufgenommen? Es schien fast so. Etwas hatte sich spürbar verändert. Auf jeden Fall hatten sie einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht.
Durch seine verletzte Hand war Nadim derart eingeschränkt, dass Tavar von Stund an viele Dinge ganz allein erledigen musste, aber anders als vorher scheute er sich nicht mehr, Fragen zu stellen, viele Fragen selbst zu den kleinsten, unbedeutenden Dingen. Es ging schon beim Bepacken des Pferdes los. Warum Nadim jenen Knoten so schlang und jenen so, wie er sich orientierte, wo sie gerade waren.. Nadim antwortete, froh darüber, dass er abgelenkt war von seiner pochenden Hand und seinem Ärger. Ehe er es sich versah, unterrichtete er seinen jungen Begleiter richtig, bis er irgendwann einmal anmerkte, dass selbst das Schweigen eine große Tugend der Kundschafter war. Er lachte dabei, und daher nahm es Tavar nicht allzu ernst, ließ ihn aber für eine Weile in Ruhe.
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