Seine Frage wurde ignoriert. »Und trägst du etwas bei dir, was alle als dein Eigentum kennen?«
Zögernd legte der Junge seinen Schwertgurt ab und förderte nach einem weiteren auffordernden Stoß ein goldenes Amulett unter seiner Tunika zutage. »Das habe ich von Mutter geschenkt bekommen. Bitte, sagt mir doch, was habt Ihr vor?«, flehte er in schlimmer Erwartung.
Ohne Weiteres wurden ihm die Gegenstände abgenommen, und einer der Männer wickelte sie in ein Tuch und verließ die Hütte. »Du wirst heute Nacht genauso sterben wie ich«, sagte sein Entführer.
Tavar sah ihn an, dachte über seine Worte nach, und dann hatte er es: »Ihr seid Nadim! Der Bruder von..«
»Schweig!«, fuhr ihm Nadim über den Mund. »Erste Regel: Niemand erfährt etwas von den anderen, denn dann kannst du den Feinden nichts verraten, wenn sie dich gefangen nehmen. Verstanden?« Tavar nickte furchtsam.
»Keine Sorge«, sagte der andere Mann, der ihm geholfen hatte, »dein Vater erhält eine Botschaft von uns, dass du in Sicherheit bist. Er soll dich suchen und deine Leiche finden und in aller Öffentlichkeit trauern. Dann bist du aus dem Weg, und Alia hat ihr Ziel verfehlt. Hast du das verstanden?«
»Jaahh«, krächzte Tavar, den Blick immer noch auf Nadim gerichtet. Der Mann war ihm nicht geheuer, er schien geradezu wütend auf ihn zu sein. Irgendwie spürte Tavar, dass er einen furchtbaren Fehler begangen hatte, aber er wusste nicht, warum. »Was.. was werdet Ihr jetzt mit mir tun?«
Die beiden anderen sahen Nadim fragend an, der wieder seinen Marsch aufgenommen hatte. Sie wussten keine Antwort darauf, und Nadim raufte sich im wahrsten Sinne des Wortes seine nicht mehr existierenden Haare. »Ein schönes Dilemma, Nadim..«
»Ja, verflucht!« Er fuhr herum. »Hör zu, Junge, du siehst doch ein, dass es das Beste für dich ist, aus dem Weg zu sein? Das verschafft deinem Vater mehr Handlungsspielraum.«
Tavar antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an. Nadim seufzte innerlich.
»Aber wo sollen wir mit ihm hin? Die Männer werden ihn kaum aufnehmen wollen, es ist einfach zu riskant«, wandte einer der beiden anderen Männer ein.
»Warum bringt Ihr mich nicht zu meinem Bruder?«, fragte Tavar. »Ihr wisst doch, wo er ist?«
Die Männer verstummten, und derjenige, der ihm vorhin beigestanden hatte, machte einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Junge..«
»Ihr wisst es doch?«, rief Tavar in zunehmender Verzweiflung. Dieses Schweigen ließ ihn Böses ahnen.
»Junge, wir..«
»Ihr wisst es nicht?!« Tavar starrte entsetzt in die Runde und erntete nur bedauerndes Kopfschütteln.
»Nein, wir wissen es nicht, und um ehrlich zu sein..«
»Was? Bitte, sagt es mir!«
»Um ehrlich zu sein, wir glauben nicht, dass an dem Gerücht, dass der Thronfolger und die Fürstensöhne am Leben sind, etwas dran ist. Es wird nur aufrechterhalten, damit die Leute die Hoffnung nicht verlieren«, fuhr der andere fort. Nadim sagte dazu nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Die anderen durften von Altheas Träumen nichts erfahren.
»Nein!« Tavar wich zurück. »Nein, das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein!!«, schrie er und stolperte fort von ihnen. Sie hörten ihn einige Dinge umwerfen und sahen seinen Schatten sich in einer Ecke verkriechen, weil er keinen anderen Ausweg fand.
»Also Nadim, ich weiß nicht..«
»So können wir ihn nicht laufen lassen. Er begeht irgendeine Dummheit, und alles ist zum Teufel. Du wirst ihn bei dir behalten müssen, bis..«
Nadim fluchte lautlos, sah aber ein, dass sie keine Wahl hatten. Er dankte ihnen und blieb allein mit dem Jungen in seiner Hütte zurück. Seufzend zog er sich seinen feuchten Umhang aus und hängte ihn zum Trocknen an die Feuerstelle. Dann holte er sich einen Schluck zu trinken und setzte sich in seinen Lieblingssessel, ein zerfleddertes Ding aus Flechtwerk, das unter seinem Gewicht vernehmlich knarrte.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Schatten seines ungebetenen Gastes. Dieser hatte sich zusammengerollt, und den Geräuschen nach zu urteilen, weinte er vor sich hin. Er trauert, dachte Nadim und fühlte einen leisen Stich des Mitleids. Es tat weh, wenn man Illusionen oder die letzte Hoffnung verlor. Das Mitleid mischte sich mit ein wenig Verachtung. Im Stillen zog er einen Vergleich zu seinem ersten Eindruck von Phelan und Althea. Diese waren wesentlich jünger gewesen als der Junge in seiner Hütte, jedoch ganz anders. Nadim überlegte, woran das gelegen haben mochte. Verantwortung? Selbstständigkeit? Althea und Phelan hatten bereits schmerzhaft lernen müssen, eigene Entscheidungen zu treffen, und sie hatten kämpfen müssen wie Erwachsene. Dieser hier war noch ein Grünschnabel in allem, wie er sich verhielt. Eben ein richtiges Kind. Nadim taten alle drei leid. Was waren das nur für Zeiten, in denen sie nicht normal aufwachsen konnten? Phelan und Althea war eine unbeschwerte Kindheit genommen worden, und diesem hier ließ sein Vater bestimmt nicht genug Raum, um selbstständig zu werden. Einerseits konnte er den Fürsten verstehen, aber war es gut für den Jungen? Während er so nachdachte, konnte Nadim ihm nicht mehr richtig böse sein und ihn verachten. Schließlich hatte der Junge einen halben Tag um sein Leben bangen müssen.
Seufzend stand Nadim auf, nahm sich zwei Schalen und tat ihnen beiden etwas von dem Hammeleintopf auf, der über dem Feuer schmorte. »Hier, du musst hungrig sein.« Er stellte die Schale vor dem Jungen auf den Boden.
Tavar sah hoch und wischte sich hastig die Tränen ab. Ausgelaugt, wie er war, spürte er rein gar nichts, aber als ihm nun der Duft des Essens in die Nase stieg, merkte er doch, wie hungrig er war. Geradezu gierig begann er zu schlingen, als würde Nadim es ihm gleich wieder fortnehmen. Als er fertig war, sah er vorsichtig zu seinem Entführer – oder war es sein Retter? – hinüber. So ganz traute er der Sache noch nicht. Er entdeckte, dass sie allein waren. »Wo sind die anderen hin?«, fragte er vorsichtig.
»Dorthin, wo auch immer sie am Morgen erwartet werden. Das ist der Vorteil, wenn man tot ist. Niemand erwartet einen, man kann kommen und gehen, wann man will«, erklärte Nadim. Er merkte, wie Tavar zu dem Kessel hinüberschielte. »Nimm dir ruhig, es ist genug da.« Das ließ sich Tavar nicht zweimal sagen. Er füllte sich auf und setzte sich auf einen Schemel, den Fremden nicht aus den Augen lassend.
Dessen lässige Haltung täuschte. Keine Bewegung des Jungen entging ihm. »Wenn du jetzt denkst, du kannst einfach davonlaufen, dann täuschst du dich. Ich lasse dich nicht gehen, und außerdem findest du ohne fremde Hilfe niemals hier heraus.«
Geradezu furchtsam zog Tavar die Schultern ein. Konnte der Mann Gedanken lesen?
Von Nadim kam ein heiseres Lachen: »Nichts für ungut, aber in deinem Gesicht kann man lesen wie in einem offenen Buch«, sagte er und nahm einen tiefen Zug aus seinem Krug. Der Junge wurde nun zu allem Überfluss auch noch rot. Nadim schüttelte nachsichtig den Kopf. Der würde ein hartes Stück Arbeit werden, sollte er sich entschließen, ihn bei sich zu behalten.
»Was.. was habt Ihr mit mir vor? Wollt Ihr mich einsperren?«
»Einsperren? Worin? So ein Blöd.. wie auch immer.« Nadim hielt sich zurück. ›Der Junge hat viel durchgemacht‹, mahnte er sich. »Nein, ich kann dich nicht einsperren. Ich muss dich mitnehmen, und dies passt mir gar nicht, das kannst du mir glauben. Gerade konnte ich mich wieder frei bewegen, und jetzt habe ich dich als Klotz an meinem Bein.«
»Mitnehmen? Wohin?« Tavar richtete sich auf.
Nadim machte eine lässige und, wie er hoffte, beruhigende Handbewegung. »Ich will zuerst nach Gilda. Viel zu lange schon habe ich meine Pflichten vernachlässigt.«
»Eure Pflichten wem gegenüber?«, folgte sofort die nächste Frage.
Читать дальше