Doch es sollte ihr nicht vergönnt sein, auch nur kurz zu ruhen. Plötzlich traf sie ein kleiner Stein von oben. Die Höhle erzitterte, wohl unter dem immer stärker werdenden Schlägen der Wächter auf der anderen Seite des Tores. Überall begann es zu bröckeln und zu poltern.
›Oh nein, die Höhle stürzt ein!‹ Althea wollte aufspringen und schrie schmerzgepeinigt auf. Da erst wurde sie gewahr, dass ihre Beine in einem ganz merkwürdigen Winkel auf dem Boden lagen. Sie waren gebrochen! Es blieb ihr nichts weiter übrig, als sich mit beiden Armen vorwärtszuziehen, fort von den immer mehr herabstürzenden Felsbrocken. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Schmerzen gehabt, denn ihr Licht, das vermochte sie nicht mehr zu holen. Mit allerletzter Kraft schleppte sie sich nach draußen und fand sich mit dem Gesicht nach unten in kaltem Schnee wieder.
›Warum liegt denn Schnee?‹, dachte sie noch, und dann traf sie etwas, das sich anfühlte, als würde ihr Körper auseinandergerissen. ›Hilfe!!‹, konnte sie nur noch in Gedanken rufen, und dann schoss der Schmerz durch jede Faser ihres Körpers.
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Nador
Dritter Winter nach der Flucht
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Nadim hatte beschlossen, dass es an der Zeit war zu sterben. Nichts konnte ihn mehr davon abbringen, auch jetzt nicht, als er verdeckt unter einem langen, grauen Umhang seinem eigenen Trauerzug zusah und ihm das verweinte Gesicht seiner Tochter fast das Herz brach. Es war Winter in Nador, ein harter, strenger Winter, und das Fieber ging um wie noch nie zuvor. Seine Frau war eine der Ersten gewesen, die sich damit angesteckt hatte, zusammen mit seiner Schwägerin. Warum mussten die beiden auch ständig durch die neuen Armenquartiere ziehen und Almosen verteilen, gerade seine Frau, die seit jeher kränklich gewesen war? Während seine Schwägerin sich wieder auf dem Wege der Besserung befand, war es mit ihr stetig bergab gegangen, und bald hatten selbst die Mönche keine Hoffnung mehr gehabt.
Es war für Nadim der Abschluss zweier unendlich langer, quälender Jahre gewesen. Eingeschränkt durch die neuen Bestimmungen für den Handel und alle Reisenden, hatte er seinen Verpflichtungen gegenüber Bajan nicht mehr nachkommen können, zu groß war die Gefahr gewesen, sich zu verraten. Also war er notgedrungen zu Hause geblieben, war im Handelshaus seines Bruders untergekrochen, allen auf die Nerven gefallen und hatte versucht, einigermaßen mit seiner Frau auszukommen. Liebe hatte es zwischen ihnen wie in vielen arrangierten Ehen nie gegeben, aber er hätte nie gedacht, dass sie sich derartig entzweien könnten. Sie entwickelten geradezu einen Hass aufeinander, etwas, dem er die Jahre zuvor durch seine Zeit im Busch Nadors und seine vielen Reisen entgangen war.
Nun eröffnete ihm der Tod seiner Frau eine völlig neue Möglichkeit. Er hatte seinen Bruder gebeten, ihn sterben zu lassen, offiziell und vor aller Augen. Der zeigte sich zunächst entsetzt, aber dann erkannte er, welche Möglichkeiten ein unabhängiger und durch die Tempelwache unentdeckter Nadim ihm bot. Unter größtmöglicher Beachtung der Bevölkerung, selbst die Fürstenfamilie war anwesend, wurden Nadim und seine Frau zu Grabe getragen. Er war erleichtert, endlich ziehen zu können.
Nur der Anblick seiner Tochter schnürte ihm die Kehle zu. Sie war elf Jahre alt, bald alt genug, um zu verstehen, was Nadim beabsichtigte. Wenn es soweit war, würde sie ihm nicht gram sein, dessen war er sicher. Aber dennoch, sie war sein kleines Mädchen, das jetzt seinen Trost brauchte, und er konnte ihr diesen nicht geben.
Voller Trauer und mit schlechtem Gewissen wandte er sich ab und drängte sich durch die wartende Menge. Hinter einer Mauer nahm er den bereitgestellten Tragekorb auf und reihte sich in den unendlichen Strom der Lastenträger ein, welche in Nador zum alltäglichen Bild gehörten. Vor der Stadt angekommen, verbarg er sich in einem Verschlag im Lager seines Bruders, bis es dunkel war.
Alles war dort, wie sie es besprochen hatten: Sein Pferd, Proviant und nicht zu vergessen sein Ferriumschwert, das Bajan ihm bei ihrer Flucht überlassen hatte. Er hatte es die letzten zwei Jahre gut verborgen. Nun zog er es langsam heraus. Es hatte schon einige Gebrauchsspuren von den vielen Kämpfen davongetragen, von denen derjenige mit Altheas Großvater der heftigste gewesen war. Leider hatte er es versäumt, den alten Räuber nach der Behandlung dieser Scharten zu fragen. Das würde er selbst herausfinden müssen.
Behutsam steckte Nadim es wieder weg und machte es sich bequem. Er sann darüber nach, was er nun alles in Angriff nehmen musste. Bisher hatte er allenfalls sporadisch Verbindung zu seinen Leuten im Busch aufgenommen. Auf gar keinen Fall hatte er sich mit ihnen treffen können. Nur unter größter Vorsicht hatten sie es gewagt, so etwas wie ein Netzwerk aufzubauen, dafür war die Gefahr, enttarnt zu werden, viel zu groß.
Das würde er zuerst in Angriff nehmen und als allererstes die Hirten auf seine Seite ziehen. Sie waren äußerst wütend auf die Mönche, denn der freie Handel mit Temora war ihre größte Einnahmequelle gewesen. Jetzt nagten sie am Hungertuch und waren nicht gewillt, dies einfach so hinzunehmen. Sie schmuggelten, unter großen Gefahren und mit allem, was nur ging, und diese Verbindungen wollte auch Nadim für sich nutzen. Die Hirten hatten seine Männer schon vorher mit Neuigkeiten über alle Bewegungen der Tempelleute versorgt. Dadurch war es ihnen gelungen, eine ganze Reihe Gefangener aus den Klauen der Tempelwache zu befreien. Sie lebten nun versteckt im Busch Nadors, an wechselnden geheimen Orten, wo es kaum einen Pfad geschweige denn eine Versorgung gab.
Aber auch Nadim war sehr erfinderisch darin geworden, an Neuigkeiten heranzukommen. Er wusste genau, wem er trauen konnte und wem nicht, mit wem er ein kleines Gelage abhalten musste, bis er gesprächig wurde, oder wer unter den Mönchen litt. Sein Bruder jedoch war die beste Quelle von allen. Er war eine Scheinallianz mit den Mönchen eingegangen und lieferte ihm genügend Neuigkeiten, dass er über alles im Bilde war.
Eine Nacht später stand Nadim mitten im Busch und fand seine Hütte gut verborgen und vor allem unberührt vor. Er wurde bereits erwartet. Alle drei Kundschafter waren da. Sie hatten nicht viel Zeit, sie mussten am Morgen wieder zurück sein und ihren normalen Alltagsgeschäften nachgehen. Seine Erleichterung gut verbergend, machte sich Nadim daran, endlich wieder mit ihnen Pläne zu schmieden.
Einige Wochen später lag er im tiefen Schnee verborgen auf der Lauer. Er hatte von seinen Leuten erfahren, dass sich eine Gruppe Fremder im Busch aufhielt. Bei dem Wort Fremder musste er nun doch grinsen. Er kannte die ganze Bande, es war eine Gruppe Jungen, alles Söhne bedeutender Handelsherren, und auch der Sohn des Fürsten war darunter. Zuerst dachte er, dass sie auf Jagd gehen wollten, aber dazu hätten sie ihre Pferde am Rande des Busches stehen lassen und zu Fuß weiter pirschen müssen, anstatt laut jubelnd durch den Busch zu sprengen, übermütig wie junge Hunde. Es kam ihnen wohl mehr auf das Vergnügen an, endlich einmal wieder hinauszukommen.
Er konnte es verstehen. Seit diesem merkwürdigen ›Unfall‹, der den jungen Tavar fast das Leben gekostet hatte, wurden sie alle streng bewacht, sein Bruder tat es mit seinen Söhnen und Töchtern auch nicht anders. Kein Wunder, dass sie sich manchmal regelrecht eingesperrt vorkamen, dachte Nadim, während er beobachtete, wie die übermütige Jagd in eine wilde Schneeballschlacht ausartete. Selbst jetzt ritten zwei bewaffnete Leibwächter des Fürsten hinter den Jungen her und ließen sie nicht aus den Augen.
Nadim zog sich zurück. Er konnte sie getrost ziehen lassen, es bestand wohl keine Gefahr, dass sie weiter in den Busch eindrangen und dort auf ihre geheimen Pfade stießen. Genauso lautlos, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder.
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