Tavar stolperte blind durch den Schnee. Es kam ihm vor wie der Marsch in die finsterste Dunkelheit. Er wurde durch Büsche gezerrt, Abhänge hinunter gestoßen, irgendwann stank es ganz fürchterlich, und er hört etwas blubbern und schmatzen und dann einen lauten Klatsch, als ob etwas ins Wasser fiel. In seiner Angst vermochte er es nicht zuzuordnen. Er dachte, er sei auf bestem Wege in den Vorhof der Hölle. Unablässig drehten sich die Ereignisse in seinem Kopf. Der Angreifer, der verletzte Wachmann, sein Retter, der sein Feind geworden war.. was war mit dem treuen Wachmann? Und was wollte dieser hier von ihm? Tavar konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, aber an sein Gesicht. Er war tot. War er nicht vor Kurzem samt seiner Frau bestattet worden?
All diese Rätsel schwirrten durch seinen Kopf und steigerten sich zu einer handfesten Panik, sodass er beinahe auf die Knie fiel, als er spürte, wie es einige Stufen hinaufging. Er hörte das typische Knarren und Quietschen einer Tür aus Flechtwerk. ›Bessere Hütte‹, urteilte er sofort, als ihm wohltuende Wärme, aber kein Stallgeruch entgegenschlug. Diese greifbaren Dinge halfen ihm, sich etwas zu beruhigen. Sofort spürte er die Anwesenheit anderer Leute. Schweiß, nasses Fell, scharrende Füße.. er wurde gepackt und unsanft auf einen wackeligen Schemel gedrückt.
»Sie haben uns gesagt, dass du uns einen ungebetenen Gast mitbringst«, sagte jemand.
»Das kannst du wohl laut sagen«, knurrte die Stimme seines Entführers dicht neben seinem Ohr, und dann wurde ihm die Kapuze heruntergerissen. Kalter feuchter Schnee rieselte ihm in den Kragen. Tavar schüttelte sich in der Hoffnung, endlich die Augenbinde und den Knebel loszuwerden, und erstarrte im selben Moment, weil jemand hart seinen Unterkiefer packte und sein Gesicht in das Licht einer Lampe zwang.
»Bei allen Heiligen.. bist du verrückt geworden?! Wie konnte das passieren? Ausgerechnet der Sohn von Tanaar!« Tavar spürte sämtliche Anwesenden dicht an sich heranrücken und versuchte, der Hand zu entkommen. Sogleich spürte er eine harte Faust im Nacken und hielt still.
»Ich hatte keine Wahl. Er hat mich erkannt. Einer von der schwarzen Garde hat ihn überfallen und wollte ihn entführen oder Schlimmeres.«
›Schwarze Garde?‹, dachte Tavar und hörte, wie alle um ihn herum scharf die Luft einzogen, als sein Entführer berichtete, was sich zugetragen hatte.
»Wir müssen schnell handeln. Fürst Tanaar wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, bis er ihn gefunden hat. Das dürfen wir nicht riskieren.«
»Zurück kann er aber auch nicht«, sagte der Mann, der sein Kinn nun wieder losließ. Tavar duckte sich in schlimmer Erwartung.
»Nein. Wir brauchen eine Leiche.« Tavar schrie gegen seinen Knebel an, als er das hörte. Nur die Faust in seinem Nacken verhinderte, dass er aufsprang. »Doch nicht deine, Junge! Nun nehmt ihm schon die Fesseln ab, der macht sich ja fast ins Hemd. Der Schaden ist eh angerichtet.«
Mit einem unwilligen Knurren wurde Tavar nach vorne gestoßen. Kaltes Metall fuhr an seiner Haut entlang, und jemand nahm ihm die Augenbinde, den Knebel und die Fesseln ab. Blinzelnd und sich die tauben Hände reibend, sah er sich um. Sie waren zu viert. Sein Entführer lehnte mit verschränkten Armen vor ihm an der Wand. Die anderen drei hatten die Kapuzen hochgeschlagen. Sie wollten nicht erkannt werden.
»Und, was schlägst du vor, was wir mit ihm machen?«, fragte der hinter ihm.
»Bei uns aufnehmen?«, schlug derjenige links von ihm vor.
Sein Entführer schnaubte. »Dreimal darfst du raten, wie lange er hier freiwillig bleiben würde. Bevor es ihn zu seinem Papa zurückzieht.« Er beugte sich vor und zwang Tavar, ihm direkt in die Augen zu sehen. Sie schienen in einem unheimlichen, leuchtenden Braun zu glimmen. »Weil er glaubt, du seiest tot, und du ihn beruhigen willst! Im Handumdrehen hätte er alles über uns aus dir herausgeholt!«
Tavar fuhr kopfschüttelnd zurück und wurde nicht nur von einer Hand gepackt. »Versuch nicht, uns zu täuschen, Junge«, zischte es hinter ihm. »Ganz Nador weiß, wie wenig du dich gegen deinen Vater behaupten kannst und..«
»Lasst ihn!« Der Mann, der auch dafür gesorgt hatte, dass ihm die Fesseln abgenommen wurden, griff ein. »Mit vierzehn hast du vor deinem Vater geflennt wie ein kleiner Junge, als er dir eine Tracht Prügel verpasste! Ihr habt euch alle nicht besser durchsetzen können wie er, aber das ändert nicht unser Problem.«
»Ich bin fünfzehn..«, krächzte Tavar schwach.
»Na und? Ein Grünschnabel, nicht geeignet, bei uns zu bleiben. Du würdest uns verraten, vielleicht unabsichtlich, aber du würdest es tun. Nein, wir können dich nicht laufen lassen, aber hier behalten können wir dich auch nicht.«
»Ich sage euch ja, wir brauchen eine Leiche..«
»WER seid Ihr?!«, schrie Tavar auf und barg seinen Kopf schützend zwischen den Armen, als wollten sie ihn gleich abschlagen. Seine Nerven gingen mit ihm durch. Bleich vor Furcht sprang er auf, er wollte zurückweichen und prallte gegen einen der Männer.
Sie schwiegen, sahen sich an, überlegten. »Also gut. Setz dich, Junge. Du hast nichts von uns zu befürchten.« Die Faust, die ihn wieder auf den Schemel drückte, sprach eine ganz andere Sprache. Tavar hatte keine Wahl, aber er erlebte eine Überraschung. Anstatt ihn wieder zu fesseln, kniete sich sein Entführer vor ihm nieder und begann mit geübten Bewegungen, seinen Armschutz herunterzustreifen, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Tavar erwiderte den Blick unsicher. Er schluckte.
»Sieh her!« Der Mann streckte ihm die Unterseite seines Handgelenkes hin. »Sagt dir dies hier etwas?«
Tavar sah zunächst gar nichts, so verschwommen war sein Blick. Der Mann rückte sein Handgelenk näher, und Tavar entdeckte ein kleines, dunkles Mal. Er beugte sich vor. »Das.. ist das eine Blume?«
»Sieh genauer hin.«
Jemand reichte ihm ein Licht herüber, und jetzt erkannte er es sofort. »Das ist die Rose der Königin!«, rief er aus und riss den Kopf hoch. Aus weiten Augen starrte er die Männer an. »Ihr seid Bajans Männer!«
»Sieh an, dumm bist du nicht«, erwiderte sein Entführer und stand auf. »Was glaubst du, wird dein Vater tun, wenn sein Leibwächter verletzt und ohne dich zurückkehrt?«
Tavar schluckte. »Er.. er wird mich suchen. Sofort und mit allen Mitteln. Ihr könnt mich nicht hierbehalten. Lasst mich gehen!« Mildes, verächtliches Lächeln antwortete auf seine Forderung.
Sein Entführer begann, unruhig auf und ab zu laufen. Schließlich wandte er sich um. »Weißt du, Junge, wer das dort draußen war? Der Mann, der dich töten wollte?«
Tavar schüttelte den Kopf. »Ihr sagtet, die schwarze Garde.. wer ist das? Was habt Ihr mit ihm gemacht?«
»In den Sumpf geworfen!«, winkte der Mann ab. »Als die schwarze Garde bezeichnen wir die Leute, welche die Drecksarbeit für die Mönche erledigen. Oder für unsere neue Königin, such dir etwas aus.«
»Alia!« Tavar sprang auf. »Vater sagt, sie steckt hinter alldem, was mir schon passiert ist.«
»Und du kannst sicher sein, wenn du weiter so unvorsichtig bist, wird sie dich kriegen, tot oder lebendig, wobei ich dir eher Ersteres wünsche als Letzteres«, schnitt ihm sein Entführer scharf das Wort ab. Tavar klappte seinen Mund wieder zu. »Nein, wir stecken in der Klemme. Haben wir denn eine Leiche?«, fragte er den Mann, der das bereits zweimal vorgeschlagen hatte.
»Ein Junge, der Waisenjunge, ist gestern Nacht an Fieber gestorben. Es könnte klappen, er ist ja recht mager so, wie er. Wenn wir sein Pferd in der Nähe anbinden.. hast du etwas, woran deine Leute dich einwandfrei erkennen können? Ein Muttermahl oder eine Narbe oder so etwas?«
Tavar zuckte zusammen. Er erhielt einen Stoß. »Ich.. ich habe eine Narbe, hier am Handgelenk. Als kleiner Junge habe ich mich dort geschnitten. Was habt Ihr vor?«
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