Nadim merkte, dass der Junge entweder sehr neugierig oder mit einem scharfen Verstand gesegnet war. Wahrscheinlich sogar beides. »Hör zu, es muss dir klar sein, dass du nicht zurück kannst. Sobald dein Vater deine Leiche findet, ist es vorbei. Du solltest uns dankbar sein, dass wir dir eine Möglichkeit gegeben haben, Alia zu entkommen, auch wenn das in deinen Augen vielleicht feige aussieht. Früher oder später hätte sie dich bekommen, so viel ist sicher.« Nadim sah ihn in der Erwartung einer Zustimmung an.
›Ja doch!‹, dachte Tavar unwillig und sagte nichts dazu.
Ungerührt fuhr Nadim fort: »Wir sind alle auf den Thronfolger vereidigt, dessen Flucht Bajan gedeckt hat. Nur wissen wir leider nicht, ob er überlebt hat, aber sein jüngerer Bruder ist mit Bajan entkommen, er lebt bei ihm im Exil. Meine Pflicht ist es, für Bajan die Verbindungen zu halten, ihn mit Neuigkeiten zu versorgen. Das ist leichter gesagt als getan. Die Schließung der Grenze und diese neuen Reisegesetze haben uns gelähmt, was wohl auch Sinn und Zweck der Sache sein sollte.«
Eine Wandlung zeichnete sich im Gesicht des Jungen ab. »Ihr seid Bajans erster Mann in Nador?!«, rief er so erstaunt, dass Nadim lachen musste.
»Der bin ich, schon immer gewesen, und wie es aussieht auch von ganz Morann.«
»Aber.. Ihr seid doch.. ein..« Tavar biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippen, bevor ihm ein sehr unschönes Wort herausrutschen konnte.
»Ein Taugenichts?« Nadim lachte noch mehr. »Keine Sorge, ich habe schon schlimmere Beschimpfungen gehört. Es ist die beste Tarnung, die du haben kannst. Niemand denkt sich etwas dabei, wenn du für einige Tage verschwindest, weil alle vermuten, dass du in irgendeinem Hurenhaus versackt bist. Und mit Fremden zu saufen, ist immer noch die beste Methode, sie auszuhorchen. Du bist wirklich noch ein Grünschnabel«, grinste er, als Tavar bis über beide Ohren rot wurde. »Nun, wir werden sehen. Hier, nimm diese.« Er warf Tavar eine alte kratzige Decke zu. »Du kannst dort drüben schlafen.«
Es wurde eine unruhige Nacht. Tavar wälzte sich schlaflos herum, seine Gedanken überschlugen sich. Was sollte er tun? Hierbleiben, quasi als Gefangener? Das wollte er nicht. Zu seinem Vater zurückkehren? Er wollte nicht wahrhaben, was die Männer ihm gesagt hatten. Dass seinem Vater die Hände gebunden waren und dass Alia ihn töten wollte. Und doch wäre es fast passiert. Was sollte er tun?
Auch Nadim fand keinen Schlaf, da er mit halbem Ohr immer darauf lauschte, ob sein unfreiwilliger Gast nicht doch noch einen Fluchtversuch wagte. Aber er tat es nicht. Als der Morgen dämmerte und Nadim aufstand und ihnen etwas zum Frühmahl bereitete, war Tavar wach.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er zwischen zwei Bissen. Nadim machte eine auffordernde Handbewegung, schwieg aber. Tavar fasste Mut und beschloss, offen zu sein: »Ich kann nicht ganz glauben, dass Alia mich töten will, aber wenn es besser für meinen Vater ist, wenn ich aus dem Weg bin, dann will ich hier bei Euch bleiben.« Er sah Nadim fragend an.
»Glaubst du denn, dass es besser ist? Diese Frage kannst du dir nur selbst beantworten. Ich kann dir darauf keine Antwort geben.«
Verlegen senkte Tavar seinen Blick auf die Schale hinab und schwieg. Seine Absicht, Nadim dazu zu bewegen, ihm die Entscheidung abzunehmen, war nicht aufgegangen. Er musste sie wirklich selbst treffen, und sie würde sein ganzes weiteres Leben beeinträchtigen. Während er langsam weiter aß, durchdachte er die Alternativen und erkannte, dass er eigentlich keine Wahl hatte. »Ich werde alles tun, um zu erreichen, dass wir wieder ein freies Fürstentum werden. Und ich möchte den Tod meines Bruders rächen!«, sagte er nach einiger Zeit leise. Es waren die zwei gewichtigsten Gründe, die ihm auf der Seele lagen.
Nadim sah seine entschlossene Miene und nickte. Der Junge hatte selbst darauf kommen müssen, alles andere wäre nur halbherzig gewesen. »Gut. Dann werden wir dir zuerst ein anderes Pferd besorgen. Es ist gut, dass sie dein edles Ross gleich mitgenommen haben, man erkennt es allzu leicht. Und dann werden wir unsere Reise vorbereiten. In ein paar Tagen reiten wir los.«
»Mitten im Winter?!«, entfuhr es Tavar, und er biss sich wieder auf die Zunge, weil Nadim mit den Augen rollte.
»Natürlich mitten im Winter! Das ist für einen Kundschafter kein Problem.« Tavar hörte an seinem Ton, dass er nicht länger gewillt war, sich mit seinen Fragen herumzuschlagen, und schwieg.
Tavar sollte sehr schnell herausfinden, dass sein Gastgeber ein eigenbrötlerischer Mensch war, der Gesellschaft nicht gewohnt war und sich eingeengt von seiner Anwesenheit fühlte. Stumm tat er das, was Nadim verlangte, voller Furcht, dass er ihm weiter missfallen und vielleicht doch noch weggesperrt wurde und so niemals erfahren würde, was mit seiner Familie geschehen war.
Diese Sorge war allerdings unbegründet. Einige Nächte später erschien einer der Kundschafter bei ihnen. »In Nador hat der Fürst eine Woche Trauer angeordnet. Deine Totenzeremonie hat bereits stattgefunden.«
»Und Vater?«, entfuhr es Tavar in schlimmer Erwartung. Es war das erste Mal seit Langem, dass er wieder sprach, ging Nadim auf. Er konnte sehen, wie sehr den Jungen diese Neuigkeiten trafen. Einsicht war das eine, aber mit den Folgen konfrontiert zu werden, das andere. Er machte sich bereit, wenn nötig einzugreifen.
»Es ist mir gelungen, ihm noch in der Nacht deines Verschwindens eine Botschaft zukommen zu lassen. Es tut mir leid, schneller ging es nicht. Sie hatten bereits alles alarmiert, was greifbar war, und die nähere Umgebung abgesucht. Deine Mutter ist zusammengebrochen. Sie war bei der Totenzeremonie nicht anwesend.« Tavar sank getroffen auf einen Schemel und spürte sogleich eine feste Hand auf seiner Schulter. »Ich bin sicher, dein Vater wird es ihr sagen, sobald sie sich wieder etwas gefangen hat. Sie muss sich soweit im Griff haben, dass sie begreift, dass sie schweigen muss, unter allen Umständen. Das verstehst du doch?«
Der Junge saß still und starrte mit tränenblinden Augen ins Nichts. Sein Vater wusste es und hatte doch die schlimmsten Momente durchlitten, und was war mit seinen Freunden, seinen Verwandten.. Panik überkam ihn, es traf ihn wie ein Hammerschlag. »Nein! Nein.. nein.. ich muss..«
»Es ist zu spät, Junge«, sagte der Mann leise und eindringlich und hielt ihn fest. »Alle sind voller Trauer, aber auch voller Wut. Auch wenn die Tempelwachen jeden Zusammenhang abstreiten und laut auf irgendwelche Verbrecher verweisen, die dich auf dem Gewissen haben sollen, so glaubt es doch niemand. Die Leute ahnen alle, wer dahinter steckt. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass dein Vater und Alia Feinde sind. Dein Tod hat einige noch Unentschlossene auf unsere Seite gebracht.«
»Ich bin so ein Schuft, so ein Feigling!«, brach es aus Tavar hervor. »Warum müssen sie alle leiden? Warum kann ich mich nicht offen unseren Feinden gegenüberstellen?«
»Weil es noch nicht an der Zeit ist. Wir sind noch zu schwach«, antwortete Nadim. Tavar sah zu ihm auf. »Wir werden alles daransetzen, dass wir es eines Tages nicht mehr sind, und du solltest alles daransetzen, uns zu helfen.«
Noch wollte Tavar das nicht gelten lassen. »Sie werden nie wissen, ob es mir gut geht, immer im Ungewissen sein..«
»Doch, das werden sie«, sagte der Mann und kniete sich vor ihm hin.
»Aber..« Tavar verstummte, als der Mann seine Kapuze herunterstreifte. Er fand sich Auge in Auge mit einem sehr hohen Bediensteten seines Vaters und vertrautem Gesicht. »Rittmeister!«
»Oh nein, das ist mein Bruder Eachan. Wir sind Zwillinge, eine durchaus praktische Sache, wenn einer von uns unbemerkt verschwinden will«, lächelte der Mann. »Du siehst, wir sind euch näher, als ihr dachtet. Sie werden von uns erfahren, wie es um dich steht, keine Sorge.«
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