Er war noch nicht weit gelaufen, da bekam er Gesellschaft. Nichts war zu sehen, aber sein Instinkt sagte ihm, dass jemand in der Nähe war, jemand mit einem nassen, fürchterlich stinkenden Hund. »Du kannst rauskommen, ich weiß, dass du hier steckst. Deine Töle riecht man hundert Schritte gegen den Wind!«, sagte er leise und scheinbar an einen Busch gerichtet.
Gleich darauf schälte sich eine Gestalt aus dem Schneeweiß. Wie Nadim auch trug sie einen Umhang aus grau-weißen Fellen, eine perfekte Tarnung, kaum auszumachen in dem dichten Buschwerk. »Dir kann ich nichts vormachen«, grinste der alte Mann durch sein lückenhaftes Gebiss.
»Das liegt an deinem Hund. Wo steckt er?« Niemals nannten sie sich beim Namen, denn ihre Leute sollten sich untereinander möglichst wenig kennen, falls man sie erwischte.
»Angebunden«, antwortete der andere.
»Haben wir einen Besucher?« Sofort war Nadim alarmiert. Der alte Mann nickte nur mit dem Kopf in Richtung der entfernt lärmenden Jungen. Er führte Nadim in einem weiten Bogen wieder auf die Gruppe zu. Nicht weit entfernt stießen sie auf die Spuren eines einzelnen Pferdes.
»Da vorne!«, formte Nadims Begleiter mit seinen Lippen lautlose Worte. Nadim kniff die Augen zusammen und änderte noch ein wenig seine Haltung, um gegen das gleißende Weiß etwas erkennen zu können. Da sah er sie. Eine dunkle Gestalt in einem langen, schwarzen Umhang, regungslos zwischen einigen Felsen stehend.
»Er ist nicht gekennzeichnet«, wisperte der alte Mann und zog sich lautlos zurück. Gleich darauf war Nadim allein. Dies war eine stille Übereinkunft mit den Hirten: Sie spähten für ihn aus, aber kämpfen taten sie nicht.
Nadim schlich sich weiter an den Unbekannten heran, die Hand an dem Knauf seines Schwertes. War dies ein Mitglied der schwarzen Garde, jener finsterer Gesellen, welche für die Mönche die Drecksarbeit übernahmen, Leute töteten oder als Geiseln nahmen? Nadim hatte noch nie einen zu Gesicht bekommen, zählte man ihre Gegner bei Bajans Flucht nicht dazu, und der Name stammte von seinen Leuten im Busch. Offiziell existierte eine solche Garde nicht, und dennoch, er war sicher, es gab diese Männer. Seine Vermutung wurde in dem Moment bestätigt, als der Mann seinen Umhang ablegte und darunter die Winterkleidung eines nadorianischen Wachsoldaten zum Vorschein kam.
Nadim steckte sein Schwert wieder fort. Jetzt wollte er erst einmal sehen, was der Unbekannte vorhatte. Der Mann schwang sich auf sein Pferd, nachdem er den Umhang sorgfältig in seinem Bündel verborgen hatte, und wartete, bis die Jungen und ihre Begleiter näher kamen. Dann hieb er seinem Tier die Hacken in die Flanken und ritt laut rufend auf sie zu. Nadim musste sich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Zum Glück machten es ihm die Spuren seines Vorgängers leichter, in dem tiefen Schnee rasch vorwärtszukommen. Gerade noch hörte er die letzten Worte des Mannes:
»..Mühe Euch zu finden. Tavar, Euer Vater möchte, dass Ihr sofort nach Hause kommt.«
»Was ist passiert?«, rief der Sohn des Fürsten.
Nadim ging in einem Busch in Deckung. Was hatte der Fremde vor? Die Worte wehten zu ihm herüber: »..hat er nicht gesagt, nur dass Ihr..«
»Ihr könnte ja noch bleiben, ich reite allein zurück«, hörte er Tavar über die enttäuschten Rufe der anderen hinweg sagen.
›Törichter Junge!‹, dachte Nadim, und das fanden offenbar auch seine Wachen. »Kommt nicht infrage«, widersprach einer von ihnen, »ich begleite Euch.« Nadim kannte den Mann, er war der Dienstälteste unter den Leibwächtern des Fürsten, ein erfahrener Kämpfer.
Die Jungen sahen Tavar fragend an, dann zuckten sie mit den Schultern. »Na schön, reiten wir!« Laut lärmend preschten sie davon, den anderen Wachmann im Gefolge. Tavar sah ihnen missmutig hinterher.
»Wollen wir?« Der Bote machte eine auffordernde Geste. Nadim hatte sich längst entschieden, statt seines Schwertes den Bogen zu nehmen. Alles wäre zu spät, ritten sie rasch fort, denn dann käme er nicht schnell genug hinterher. Andererseits – Nadim nickte finster, als er den Boten absitzen und scheinbar nach den Fesseln seines Pferdes sehen sah – musste ihr Feind, wenn überhaupt, hier im tiefen Busch zuschlagen, sonst war die Gefahr, gesehen zu werden, viel zu groß.
Die beiden anderen, der Junge und der alte Kämpfer, wandten sich fragend zu dem Boten um. »Ich komme schon. Ich dachte, meine Stute lahmt, aber es ist nichts«, rief er.
Nadim hatte sich indes ein ganzes Stück um sie herum bewegt, sodass sie jetzt schräg auf ihn zuritten. ›Wende ihm nicht den Rücken zu!‹, rief er in Gedanken dem alten Soldaten zu, aber es war zu spät. Der alte Mann wandte den Kopf, nickte Tavar zu, und sie wendeten ihre Pferde. Im selben Moment schlug der Verräter zu. Einzig der Instinkt für Gefahr, der alle guten Kämpfer auszeichnete, bewahrte den Wachmann davor, sofort zu sterben. Er warf sich zur Seite, das Schwert seines Angreifers streifte ihn nur, aber dennoch genug, um ihn röchelnd vom Pferd fallen zu lassen. Tavar fuhr herum, doch bevor er auch nur einen Laut hervorbringen konnte, hatte der Angreifer sich auf ihn geworfen und ihn zu Boden gerissen. Eine Handvoll Schnee erstickte den Aufschrei des Jungen im Keim.
Nadim schätzte im Augenblick eines Wimpernschlages seine Aussichten ein. Die Schnelligkeit, in der das Ganze vonstatten gegangen war, sagte ihm, dass der Mann ein ernst zu nehmender Gegner war. Das könnte haarig werden.
»Lieg still, Junge, oder ich mache dir gleich ein Ende, anstatt dich auf einen kleinen Ausflug mitzunehmen!« Der Angreifer drehte Tavar brutal herum und fesselte ihn.
Nadim überlegte nicht mehr, er spannte seinen Bogen und schoss. Er wusste genau, welche Schwachstellen die nadorianische Rüstung hatte. Der Verräter ächzte leise und brach tot auf dem Jungen zusammen. Nadim rannte zu ihm herüber. Es galt keine Zeit zu verlieren, bevor der Junge ihn erkannte oder schrie und dadurch die anderen zurückholte.
Doch es war zu spät. Wer auch immer Tavar unterrichtete, er war trotz seiner gefesselten Hände so schnell auf den Füßen, dass Nadim es nicht mehr schaffte, ihn niederzuhalten. Hustend und den Schnee ausspuckend schrak Tavar zurück, als er die Leiche und das viele Blut im weißen Schnee sah, und dann fiel sein Blick auf den heranstürmenden Nadim. »Ihr!«, keuchte er. »Aber Ihr seid doch..« Er wich stolpernd zurück.
Nadim fluchte innerlich. Sein schöner Plan, unerkannt wieder zu verschwinden, war nicht aufgegangen. Blitzschnell musste er alles umwerfen. Er zog sein Schwert und richtete es auf den verschreckten Jungen. »Sei still! Lass mich nachdenken!« Sein Blick schweifte über die Leiche ihres Angreifers zu dem Wachmann, der stöhnend langsam wieder zu sich kam. Er blutete stark, aber seine Verletzungen schienen nicht lebensgefährlich zu sein, falls er nicht im Schnee liegen blieb und erfror.
Der Junge starrte auf das ungewöhnlich glänzende Schwert. »Was.. nehmt mir die Fesseln ab! Ich will..«
Nadim knurrte unwillig und trat Tavar die Beine weg. Ehe dieser es sich versah, lag er wieder auf dem Bauch und bekam von Nadim eine Augenbinde und einen Knebel verpasst. »Hör zu«, zischte der Kundschafter, »du brauchst keine Angst zu haben, ich tue dir nichts, aber ich kann nicht zulassen, dass du hier herumschreist und mich verrätst. Von dem da laufen vielleicht noch mehr in der Nähe herum, und ich habe keine Lust, so zu enden wie dein Wachmann. Also sei ruhig, hast du verstanden?« Von dem Jungen kam ein ersticktes Keuchen und dann ein leichtes, zögerliches Nicken.
Nadim überlegte nicht lange. Die Leiche des Tempelmannes warf er auf Tavars Pferd, den Wachmann hievte er auf dessen eigenes und platzierte ihn so, als hätte der sich mit letzter Kraft darauf geschwungen und festgehalten. Dann trieb er es davon. Mit grimmiger Genugtuung sammelte er das Ferriumschwert des Tempelmannes ein. Wieder eines weniger. Er wusste von Bajan genau, wie viele dieser großartigen Waffen die Tempelwachen besaßen. Sich rasch umsehend, zerrte er Tavar hoch und zog sich samt ihrer Pferde in den Busch zurück. Es würde bald anfangen zu schneien und keine Spuren von ihnen zurückbleiben.
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