›Ich muss hier weg‹, sagte sie leise und richtete sich mit einem Ruck auf. Er nahm langsam die Hände herunter. ›Ich muss zurück zu meinen Leuten und ihnen beistehen. Sie sind in großer Gefahr.‹
Er senkte den Kopf, atmete schwer und nickte dann. ›Ja, ich weiß. Ihnen mag es egal sein, was dort drüben in deiner Welt geschieht, aber dir und mir ist es nicht egal. Du musst zurück, bevor sie dich finden und einsperren.‹ Es fühlte sich so traurig an, wie er das dachte.
›Dann.. wirst du mir helfen?‹, fragte Althea und nahm seine Hand.
Er sah darauf herab, unschlüssig. ›Ich.. ich kann dir nicht wirklich helfen, denn ich weiß nicht, wo das Tor liegt. Es ist irgendwo dort draußen, und ich..‹
›Aber das letzte Mal sagtest du doch, dass du dort sehr oft vorbeikommst!‹, rief Althea und ließ seine Hand los. Sie stemmte die Arme in die Hüften.
Ti’Anan druckste peinlich berührt herum. ›Nun, äh.. es war gelogen. Reine Angeberei. Es ist verboten, diesen Teil des Waldes zu betreten. Dort gibt es unzählige Tore und viele Gefahren, die..‹
Althea unterbrach ihn, die Zeit drängte. Warum war er auf einmal so zögerlich? ›Das hat dich dennoch nicht davon abgehalten. Bitte, Ti’Anan, du musst mir helfen!‹
Da gab er sich endlich einen Ruck. Er fasste sie bei den Schultern und sah sie eindringlich an. ›Hör zu, ich kann dir nicht helfen, ich würde dich nur in Gefahr bringen, denn mich spüren sie immer. Sie würden uns finden, und die Folgen kannst du dir nicht ausmalen. Sie sind auch so schon schlimm genug für mich. Du hingegen kannst dich im Wald frei bewegen, solange du es nur auf die Art und Weise deiner Welt tust. Du darfst nicht denken, du darfst nicht dein Licht benutzen. Hast du es noch nicht bemerkt?‹
›Doch.‹ Althea schluckte und zwang sich, ehrlich zu sein. Sie wollte ganz einfach nicht, dass er sie allein in dieser unbekannten Welt ließ, doch nun war sie sich bewusst, dass es auch für ihn nicht ohne Gefahren war. Sie musste sich entscheiden. Sein Wohl gegen ihre Sicherheit. Es war eine bittere Entscheidung, aber es half nicht. ›Wirst du..‹
›TI’ANAN!!!‹, fegte da die mächtige Stimme des Königs aus weiter Entfernung zu ihnen heran.
Beide fuhren auf. ›Oh nein, sie haben entdeckt, dass wir fort sind. Schnell, in den Wald!‹ Er schob Althea vorwärts, den Felsen herunter und auf den Waldrand zu. ›Rasch, lauf. Ich lenke sie ab!‹ Sie machte einige zögerliche Schritte auf das dichte Grün zu. ›Althea, warte!‹ Er kam hinter ihr her und hielt sie fest. ›Wirst du uns warnen, wenn ER uns noch einmal versucht anzugreifen?‹
Althea drehte sich um und warf einen Blick auf die Klaue auf ihrer Schulter. Ein Teil von ihr, es war dieser ungewohnte Teil, wollte bei dieser Berührung hierbleiben, bei ihm. Sie betrachtete dieses Gefühl verwundert. Warum entschied es so gegen alle Vernunft? Was es auch war, es war nicht richtig, entschied sie intuitiv. Sie belächelte sich selbst spöttisch und sah ihn fest an. ›Ja, das werde ich. Ich werde euch warnen, auch auf die Gefahr hin, dass sie mich dann einfangen. Du kannst es deinem Vater ausrichten, wenn sich seine Wut etwas gelegt hat.‹ Sie lächelte, und er umarmte sie, spontan und sehr sanft. Einen winzigen Moment gestattete sie sich, es zu genießen. ›Ti’Anan?‹
›Ja?‹
›Meine Freunde nennen mich nicht Althea, sondern Thea.‹ Sie spürte seine Freude bei diesen Worten und war froh, dass sie ihm dieses Geschenk gemacht hatte. Beide hoben sie den Kopf, als sie Stimmen näher kommen hörten. ›Ich muss gehen. Leb wohl!‹ Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die silbrige Wange, machte sich los und lief in den Wald. Im dichten Grün angekommen, warf sie einen letzten Blick zurück. Er stand mit der Klaue an der Wange da und sah ihr abwesend hinterher, verzückt, aber auch gehörig verschreckt. Althea musste lachen, es verdrängte ein wenig ihre Angst. Mit einem guten Gefühl brachte sie sich in den Wald in Sicherheit.
Sie war noch nicht weit gekommen, da brach über den bedauernswerten Ti’Anan das väterliche Donnerwetter herein. Es war so gewaltig, dass sogar bei ihr noch die Blätter der Bäume zitterten. Althea sah zu, dass sie schnell weit fortkam, das Licht der Quelle stets im Rücken behaltend. Doch mit halben Sinnen lauschte sie immer noch auf das Grollen hinter sich. Was war nur mit ihr los? War ihr Geist so überanstrengt, dass er sich mit ganz anderen Dingen wie Gefahren oder dem Problem, hier fortzukommen, beschäftigte? Sie führte sich ja auf wie ein albernes Mädchen, so besorgt war sie um sein Wohl!
Althea rief sich streng zur Ordnung. Sie musste so schnell wie möglich zurück in ihre Welt, wer weiß, wie viel Zeit dort drüben schon vergangen war. Tage, vielleicht sogar Wochen. Was das für Noemi bedeuten musste.. Noemi.. Da hatte die Wirklichkeit sie mit einem Mal wieder, und die Angst um ihre Freundin wollte mit Macht über sie hereinbrechen. Wie sollte sie das Tor allein in diesem Dickicht finden? Um ihrer Herr zu werden, zwang sie sich, an den nächsten Schritt zu denken. Sie musste sich orientieren, sie brauchte einen hohen Baum.
Bald hatte sie einen gefunden, aber es half ihr nicht. Sie entdeckte, dass der Wald ganz anders aussah als zuvor. Sie konnte den Palast in der Ferne sehen, und zusammen mit dem Meer der Seelen auch die ungefähre Richtung des Felsens bestimmen. Nur, dass dort kein Felsen mehr war. Althea durchfuhr ein eiskalter Schrecken, und sie achtete einen winzigen Moment nicht darauf, ihre Gefühle in ihrem Innern zu verbergen. Sofort wurde hinter ihr das Summen der Wächter laut, sie sah die Wolke hochschießen und in ihre Richtung kommen. Althea schrie auf, ließ sich einfach fallen und fing den Sturz zu Boden mit ihren Gedanken ab. Es funktioniert wirklich, dachte sie und machte sich davon. Als die Wächter bei dem Baum ankamen, war sie schon weit fort.
Es begann eine zermürbende Suche für sie. Sie lief und lief und lief, kletterte auf Bäume, hielt Ausschau, aber nichts erinnerte sie an den Felsen, auch als sie sich in etwa dort befand, wo sie ihrer Meinung nach das letzte Mal hergekommen war. Veränderte sich der Wald etwa? War er lebendig? Daran mochte sie nicht denken. In der Ferne hörte sie immer wieder die Wächter und die anderen Wesen. Sie suchten nach ihr. So langsam begann sich Panik in ihr breitzumachen. Sie verbrauchte viel Kraft, um diese Gefühle unterdrückt zu halten. Es war derart anstrengend, dass sie schließlich innehalten und sich ausruhen musste, sonst wäre ihr Schutz einfach zu Staub zerstoben.
Althea legte sich unter einen dichten Busch, dessen Blätterwerk sie vor Blicken von oben schützte, und schloss die Augen. ›Oh Noemi‹, dachte sie. Was musste sie sich um sie sorgen! Je länger sie hierblieb, desto schlimmer wurde es. Um etwas von Noemis Ruhe in sich aufkommen zu lassen, versuchte sie, ihr Bild in sich entstehen zu lassen. Es war schwer, ihre Gedanken waren bis zum Bersten mit anderen, fremden Dingen gefüllt. Doch kaum hatte sie ihre Freundin gefunden, spürte sie, wie etwas anderes an ihr zog. Noemi verschwand, und stattdessen tat sich an ihrer Stelle ein Tunnel auf. Es war keine Kälte, und es kam aus ihrer Welt, nicht aus dieser. Es war jemand, der ihr näher stand als alle anderen. ›Phelan!‹, dachte sie tief in sich drinnen, und schon wurde sie unvermittelt fortgezogen.
Althea schwebte. Auf und ab, immer wieder auf und ab. Als ihre Füße den Boden berührten, erkannte sie Wellen, riesige, kalte Wellen. Sie empfand keine Furcht vor ihnen, wusste sie doch, dass sie nicht versinken konnte. Aber was sollte sie hier? Suchend sah sie sich um. Da erblickte sie einen dunklen Schatten in all dem Grau. Mit jeder Welle schoss er aus dem Wasser, fiel zurück, immer und immer wieder.
Zunächst schien dieses dunkle Etwas nur ein längliches Ding mit einer undeutlichen, helleren Fläche darum herum zu sein, das auf dem Wasser schwamm. Doch dann schoss es mit einer besonders hohen Welle empor und fiel dicht neben ihr zurück ins Wasser. Sie erkannte einen Stamm, und an ihm hing.. ›Phelan? Oh nein, Phelan!‹ Fast hätte sie ihn nicht erkannt, so schrecklich sah er aus, totenbleich und völlig abgemagert und zerschunden. Sie wollte zu ihm, ihn schütteln, griff aber ins Leere. Also rief sie ihn, immer wieder und flehte, dass sie nicht zu spät kam.
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