›Versuche nicht, sie in Schutz zu nehmen‹, grollte der König. ›Es ist und bleibt ein Frevel! Wo sind sie hingegangen?‹
Althea schloss die Augen. ›Nach Temora. Ich.. ich glaube, ich habe dort etwas gespürt. Sie haben einen Ring um Temora, einen guten Ring, und die Priester sind als Einzige in der Lage, ihn zu durchschreiten. Oh nein, das bedeutet doch nicht etwa..‹ Sie schlug die Hände vors Gesicht, und die Wut, die um sie herum anschwoll, bestätigte den Verdacht, der in ihr keimte. ›Sie tragen sie bei sich?‹
›Unsssere Toten!‹ Plötzlich waren die Wächter da. Althea schrie auf, als die Wolke sich auf sie stürzen wollte.
›Haltet ein!‹, befahl der König.
›Ja, haltet ein!‹, wiederholte eine kleine Stimme. Einer löste sich aus dem Wächterpulk und kam auf sie zu. Sie erkannte ihn sofort an der zerbeulten Rüstung. Es war der kleine Wächter, den sie im Wald zurückgelassen hatte. ›Dieser Eindringling will nichts Böses, er hat mein Leben geschont‹, sagte der kleine Mann und schwebte auf sie zu.
Althea streckte die Hand aus, sie konnte gar nicht anders, und er ließ sich darauf nieder. Sie musste lächeln. ›Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu sehr erschreckt. Ich wollte niemanden verletzen.‹
›Alle sind am Leben. Ach bitte, darf ich es einmal fühlen?‹, bat er.
›Fühlen? Aber warum? Hier ist doch alles voll davon!‹ Althea wunderte sich sehr. Sie hatten doch die Quelle?
›Weder die Wächter noch wir können uns der Quelle nähern. Dafür sind wir zu schwach‹, erklärte die Königin. ›Wir spüren es nur in unseren Gedanken. Nur die Druidai vermögen das Licht zu beherrschen, und ihre Kinder wie Ti’Anan sind es, welche die Quelle am Leben erhalten.‹
Althea nickte verstehend. ›Beherrschen die Druidai das Licht oder werden sie von ihm beherrscht? Ich hatte schon oft den Verdacht, dass es letzteres ist‹, murmelte sie, und dann tat sie dem Wächter den Gefallen. Sie holte ihr Licht und hüllte ihn darin ein. ›Ich darf das nicht allzu häufig machen‹, sagte sie in Richtung der anderen und hielt sie davon ab näherzukommen. Sie lachte, als der Wächter sich jauchzend in ihrem Licht drehte. ›Ich spüre nämlich von denjenigen, die ich damit berührt habe, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt. Werden es zu viele, würde ich nur noch träumen und über kurz oder lang wahnsinnig werden. Betrachte es als Geschenk, kleiner Wächter.‹
Er verneigte sich tief vor ihr. ›Ich danke Euch, Herrin.‹
›Herrin?‹, dachte Althea und schluckte. Sie warf einen Blick auf die Quelle. Ein Teil von ihr wunderte sich über dieses ernste Gespräch, das sie hier mit den Wesen führte. Auf einmal spürte sie, dass sich, je länger sie in der Nähe der Quelle verweilte, etwas in ihr veränderte. Sie fühlte, dass sie dabei war, etwas endgültig hinter sich zu lassen. Es war wie ein Abschied. Woran lag das? Fand sie endlich einen Teil von sich, den sie vorher nie verstanden hatte? Althea stand langsam auf, wie im Traum, und trat hinaus auf die Klippe. Der Wächter flog erschrocken auf und kehrte zu seinen Kameraden zurück.
Althea merkte es nicht. Sie schaute auf das Meer der Seelen hinaus, und dann sah sie es: Eine Gestalt stand dort aufrecht, wer weiß, wie lange schon.
›Ah, da ist sie‹, sagte die Königin.
›Wer ist das?‹, fragte Althea.
›Asklepias Seele. Sie weigert sich zu gehen, die ganze Zeit schon. Sie wartet auf ihre Seelenhälfte.‹
›Auf Phileas?!‹, rief Althea entsetzt. Das mochte sie sich nicht vorstellen, doch die Gestalt reckte sich bei dem Namen ein wenig und streckte die Hände in ihre Richtung aus. Unsicher sah Althea hinter sich. ›Was.. möchte sie etwas von mir?‹
›Das denke ich schon‹, sagte die Königin. ›Gehe zu ihr, aber gib acht, dass sie dich nicht ins Meer zieht. Sie ist sehr einsam dort.‹
›Ich? Da runter?‹ Althea fröstelte auf einmal. ›Was wird sie von mir wollen?‹
›Das können wir dir nicht beantworten, und wir können dich auch nicht begleiten‹, sagte die Königin.
Althea seufzte leise. Ein Teil von ihr wollte es ja unbedingt. Es war derjenige, der sich so verändert hatte. Also begann sie zu klettern, bis sie am Ufer des Sees stand. Hier konnte sie die verschiedenen Gestalten der Seelen noch besser erkennen. Es waren einige ausgesprochen Fremdartige darunter, aber das bemerkte sie nur am Rande. Ihr Blick wurde gefangen genommen von dem Abbild der Frau, das sich jetzt durch das Meer auf sie zubewegte.
›Sie haben sie nicht richtig getroffen‹, dachte Althea an die Statue im Garten der Häuser in Gilda, und das Gesicht der Frau verzog sich zu einem Lächeln, als könne sie ihre Gedanken erraten.
›Haben sie dich gewarnt, ja nicht zu nahe zu kommen?‹ Althea nickte und blieb stumm in sicherer Entfernung stehen. ›Nun, ich bin ihnen wohl etwas unheimlich, weil ich auf IHN warte. Keiner kann ohne den anderen existieren.‹
»Phileas?«, flüsterte Althea, diesmal richtig.
Die Frau nickte, ein wenig traurig. ›Das ist mein Schicksal. Mädchen, weiß du, was mit IHM geschehen ist? Und mit meinen Brüdern und Schwestern?‹
›Ja, ich weiß es‹, dachte Althea.
Asklepia kam näher, bis sie fast das Ufer berührte. Um sie herum war das Meer ruhig. Die anderen Seelen hielten Abstand. Sie musste wirklich sehr einsam sein, dachte Althea voller Mitleid, blieb aber auf der Hut.
›Dann.. bist du bereit, in die Reihen der Druidai einzugehen und deine Erinnerungen mit mir zu teilen? Eigentlich bist du noch viel zu jung dafür.‹
Althea merkte auf. Ohne dass sie es wollte, trat sie einen Schritt auf Asklepia zu. ›Ist das so etwas wie.. eine Zeremonie? Muss jede Druidai dies machen?‹
Betroffenheit malte sich in Asklepias lichten Zügen. ›Du weißt es nicht?‹
›Nein!‹ Althea bezwang gerade noch rechtzeitig ihren Unmut. ›Nein, ich weiß es nicht. Es gibt keine Druidai mehr, die mich lehren konnten. Es gibt nur etwas in mir, das mein Handeln bestimmt.‹
Der Umriss der Frau verschwamm. Sie hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Ohne dass sie es bewusst gewollt hätte, griff Althea zu. ›Sieh, was geschehen ist‹, dachte sie noch, und dann wurde sie überflutet von Eindrücken, Bildern, die in ihren Kopf schossen. Sie trafen sie wie ein Hammerschlag. Althea fiel auf die Knie, und das war es auch, was sie rettete, denn Asklepia packte ebenfalls zu. Es zog an ihr, das Wissen dieser Seele, und gleichzeitig spürte Althea, wie sie suchte, nach neuem Wissen über Phileas, nach ihren Träumen und nach dem Schicksal ihrer Brüder und Schwestern. War Althea dem zunächst hilflos ausgeliefert, schaffte sie es, dies nach und nach zu lenken und ihre persönlichsten Gedanken vor ihr abzuschirmen. Es war anstrengend, so unendlich anstrengend, und sie schrie schmerzhaft auf, als es immer mehr wurde, das auf sie und ihren überanstrengten Geist einstürmte. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie merkte nicht mehr, wie sie nach vorne überkippte.
Da wurde sie plötzlich gepackt und zurückgezerrt. Der Strom riss unvermittelt ab. Sie blieb einen Moment keuchend auf dem Rücken liegen, nicht in der Lage, etwas zu hören oder zu sehen. Erst nach und nach kehrten ihre Sinne zurück. Sie fand sich unmittelbar unterhalb des Felsens wieder. Ein Seil war um ihre Mitte geschlungen, das nach oben über den Felsen verschwand.
›Haltet Euch fessst!‹, rief der Wächterpulk.
Noch völlig benommen gehorchte Althea und wurde emporgezogen. Während sie nach oben schwebte, drehte sie sich um sich selbst und erschrak, als sie nach unten sah. Dort, wo sie eben noch gelegen hatte, schwappte das leuchtende Wasser heran, und eine Hand tastete nach ihr. ›Zieht schneller!‹, rief Althea. Im letzten Moment, da schoss die Hand empor und versuchte schon, sie zu packen, wurde sie über den Rand des Felsens gezogen.
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