Der König und seine Wesen waren in heller Aufregung. ›Sie wollte dich wirklich in das Meer der Seelen ziehen!‹
›Althea, geht es dir gut? So lasst sie doch erst einmal zu sich kommen!‹, mahnte die Königin und hüllte sie ein in sanfte Wärme.
Es beruhigte Althea. Bald war sie wieder in der Lage, klar zu sehen. ›Nein, oh nein, das glaube ich nicht. Es.. war einfach zu viel für mich. Sie hat meine Kräfte überschätzt. Vielleicht.. bin ich zu jung.. oder zu unwissend. Ich konnte es nicht beherrschen. Sie hat nach Phileas gesucht und alles über IHN herausgezogen und mir..‹ Althea keuchte und presste sich die Hände auf die Schläfen. Das neue Wissen lag wie ein riesiger Felsbrocken mitten in ihrem Gedächtnis. Sie ahnte, sollte sie es jetzt ansehen, würde es sie einfach überrollen. Deshalb hüllte sie es fest ein in ihren Geist, zog eine Mauer darum und sperrte es fort. Damit musste sie sich später befassen, wenn sie Ruhe hatte, Stück für Stück.
›Hat sie dir ihre Erinnerungen vermacht, Mädchen?‹ Althea nickte stumm, nicht in der Lage zu sprechen. ›Was hast du ihr über IHN erzählt? Sag es uns! Wir müssen alles wissen.‹
Stockend begann Althea, über ihre Träume zu berichten, und wie sie der Diener in Gilda entdeckt und sie zur Flucht gezwungen hatte. ›Seitdem suchen sie mich. Ich lebe versteckt im Wald. Nur wenige wissen, wer ich wirklich bin, für alle anderen bin ich nur das Mädchen, das lernt, eine Heilerin zu werden. Mehr wäre zu gefährlich.‹ Althea sprach mit geschlossenen Augen, die Hände ineinander verkrampft. Ihr war speiübel, und in ihrem Schädel dröhnte es, dass sie nicht mehr denken konnte. Ohne dass sie es wahrnahm, kippte sie zur Seite.
Die Königin fing sie auf. ›Mein Gemahl, wir sollten ihr Obdach gewähren, auch wenn dies nicht unseren Regeln entspricht‹, hörte Althea sie wie in weiter Ferne sagen.
›Das werden wir. Hebt sie auf und bringt sie in den Palast.‹
Althea spürte, wie sie von sanften, weichen Armen hochgehoben und davongetragen wurde. Nur noch entfernt hörte sie die Stimme des Königs und der anderen Wesen.
›Es ist gut, dass sie hierhergekommen ist, Hoheit. So wird ER sie niemals finden.‹
›Glaubt Ihr nicht, dass ER sich das Mädchen längst geholt hätte, wenn ER wüsste, was sie wirklich ist? Ich glaube, ER ist sich dessen noch gar nicht bewusst geworden. So sehr ER es auch versuchen wird, den Ring um die Tore zu brechen, ohne ihre Hilfe wird ER scheitern. Nein, es ist gut, dass sie hier ist. Hier kann sie sich zu einer vollwertigen Druidai entwickeln, und wenn ihre Zeit gekommen ist, wird sie den Weg aller Auserwählten beschreiten. Es wird höchste Zeit, dass es wieder jemand tut.‹
Mehr hörte Althea nicht mehr. Sie versank in einer wohltuenden Stille, doch nicht für lange. Kaum lockerte der Schlaf die feste Klammer, die ihr Bewusstsein um Asklepias Wissen gelegt hatte, stürzten ihre Erinnerungen auf sie ein. Althea träumte, so heftig und intensiv wie noch nie zuvor. Es war ein ganzes Leben, das dort vor ihren inneren Augen ablief, die Kindheit, die Aufnahme in die Gemeinschaft Keldas, Entdeckungen, Riten und schließlich die Erlebnisse mit IHM. Es war kein Wissen, sondern nur Eindrücke, die sie vermittelt bekam, Bilder in unglaublich schneller Reihenfolge und schließlich ein Letztes: Ein wunderschöner Mann, grausam lächelnd über ihr und die Augen kalt und gierig auf sie gerichtet. Er sah dem Geist in einer geradezu grotesken Weise ähnlich.
Althea stieß das Bild mit einem Aufschrei von sich und fand sich senkrecht auf der großen, mit Kissen und Decken übersäten Schlafstätte wieder. Hastig sah sie sich um, aber sie war allein. Noch immer verwirrt rieb sie sich über das müde Gesicht. Dann fiel ihr auf einmal alles wieder ein. ›Was hat das alles nur zu bedeuten?‹, dachte sie und schwang die Beine von der Schlafstätte. Von der hastigen Bewegung wurde ihr sofort wieder schwindelig. Sie merkte, dass sie schrecklich hungrig und durstig war. Wie lange hatte sie schon nichts mehr zu sich genommen? Eine halbe Ewigkeit bestimmt.
Althea sah sich suchend um, und da erschienen wie von Zauberhand ein Teller mit Brot und Früchten, ein Becher und ein Krug neben ihr. Hungrig machte sie sich darüber her und verschlang gierig die fremden Köstlichkeiten. Es tat so gut, dass sie beinahe gestöhnt hätte vor Wohlbehagen. Bis auf den letzten Krümel und den letzten Tropfen verzehrte sie alles. Dann hielt sie mit einem Mal inne und stutzte. Wo waren denn die Stimmen? Bisher hatte sie immer ein leises Raunen vernommen und natürlich den Gesang, aber nun war es absolut still. Verwundert trat sie ans Fenster. Draußen herrschte Dämmerlicht. War es etwa Nacht? Althea sah sich suchend um, konnte aber niemanden entdecken. Ein kurzer Blick hinter sich ergab, dass dieser Raum keine Tür, sondern nur einen Durchgang woandershin hatte. Da stand ihr Entschluss fest. Sie beschloss, den Palast zu erkunden.
Dass Feen nicht schliefen wie andere Wesen, erfuhr sie, als sie bald darauf in einer großen Höhle stand. Sie lagen nicht auf Lagern, sondern sie schwebten. Staunend sah sie sich in dem riesigen Raum um, wo sich anscheinend alle Bewohner des Palastes zusammengefunden hatten. Es waren Hunderte. Der permanente Flügelschlag ihrer Körper verursachte ein leises Rauschen, wie eine entfernte Meeresbrise.
Einen Moment lang sog Althea diesen Anblick in sich auf. Es war einfach unglaublich. Da wurde sie sich plötzlich gewahr, dass sie hier ein Eindringling war. Auf Zehenspitzen zog sie sich in einen der vielen angrenzenden Gänge zurück. Es kam ihr so merkwürdig vor. Hier schliefen sie alle zusammen in einem großen Raum, und sie selbst bekam eine einzelne Kammer? Warum hatten sie sie nicht einfach in eine Ecke der großen Halle gelegt? Was bezweckten sie damit? Sie war doch nur ein Mädchen, das..
Althea fuhr herum, sah noch einmal in die Halle hinein und suchte. Ja, da waren sie, die Königin und der König. Auch sie bildeten keine Ausnahme. Sie machte einen Schritt zurück in das Dunkle des Ganges. Wozu brauchten diese Wesen überhaupt einen solchen Palast? Mit so vielen Räumen? Das verstand sie nicht. War ihr Lager das einer Auserwählten? Eine Erinnerung drängte sich aus ihrem übervollen Gedächtnis empor, nur halb wahrgenommen.
›..wird sie den Weg aller Auserwählten beschreiten..‹
Ein ganz, ganz übles Gefühl machte sich in ihr breit. Was hatte das zu bedeuten? Althea hielt mit geschlossenen Augen inne. Sie spürte Gefahr, keine unmittelbare Bedrohung, eher eine Ahnung drohenden Unheils. Sie fasste einen Entschluss. Sie musste so schnell wie möglich herausfinden, was dies zu bedeuten hatte, und es gab nur einen, der ihr das ehrlich beantworten konnte. Doch wo sollte sie ihn unter all den Wesen finden, ohne die anderen aufzuwecken? Da fiel ihr ein, dass sie ihn ja weggesperrt hatten.
Es dauerte nicht lange, da hatte sie ihn gefunden. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie Räume, in den man jemanden einsperren konnte, in diesem Palast nur weit unten, tief im Fels, finden konnte, und damit lag sie grundrichtig. Schon von Weitem hörte sie ein Geräusch, es waren dumpfe Schläge von einem harten Gegenstand. Sie folgte dem Geräusch, bis sie vor einer massiven Tür aus Holz stand und sogleich den Zorn des dahinter eingesperrten Wesens spürte. Ti’Anans Zorn.
Althea zögerte nicht. Sie zog den Riegel fort und stemmte die Tür auf. Dahinter erstarrte Ti’Anan, einen dicken Felsbrocken zum Schlag erhoben, mitten in der Bewegung. Einen Moment starrten sie sich über den Stein hinweg an, dann ließ Ti’Anan ihn so plötzlich fallen, als hätte er sich verbrannt. Er verzog sein Gesicht zu einem Ausdruck, den Althea nicht deuten konnte, und umarmte sie. Das kam so überraschend, dass Althea sich nicht zu rühren wagte. Was hatte er denn? Hatte er etwa Angst um sie gehabt oder tat ihm einfach nur sein Verhalten leid? Sie wollte, dass es Letzteres war, aber sie ahnte, dass dies nicht der Fall war.
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