Ti’Anan musste wohl merken, dass er sie befremdete. Sichtlich betreten ließ er sie wieder los und auch ein wenig traurig. Stattdessen nahm er ihre Hand und zog sie mit sich, schweigend, durch die vielen Gänge, Treppen und Brücken hinaus in den Garten des Palastes. Ti’Anan hielt geradewegs auf eine Wand zu, schritt ohne zu zögern durch sie hindurch, und sie standen wieder in der gleichen Helligkeit, die sonst auch herrschte. Verwundert sah Althea sich um. Es war, als läge ein Vorhang über dem Palast, der das ewig helle Licht und den Gesang aussperrte. Sie setzte zu einer Frage an, aber Ti’Anan schüttelte den Kopf und sah sich aufmerksam um.
Althea verstand. Hier konnten sie belauscht werden. Sie mussten zur Quelle zurückkehren, nur dort konnten sie ungestört reden. Sie ruckte mit dem Kopf in die Richtung des Lichtes, und er begann zu lächeln. Sie verstanden sich auch ohne Worte.
Er führte sie zu einer gänzlich anderen Stelle am Meer der Seelen als das erste Mal. Wieder war es ein Felsen, auf dem er in sicherer Entfernung zum Meer blieb. Eine Zeit lang sagten sie nichts, sondern starrten nur auf die wogenden Seelen hinab.
›Es.. es tut mir leid. Bitte sei mir nicht böse.‹ Er sah so zerknirscht aus, wie er dort stand und sie nicht anzublicken getraute, dass es sie sofort für ihn einnahm. Auf einmal sah er sehr einsam aus, wie er darauf bedacht war, wieder mit ihr Frieden zu schließen. Er tat ihr leid.
›Ich habe ein Talent dafür, Leute vor den Kopf zu stoßen‹, gab sie mit einem verzeihenden Lächeln zu. ›Auch mir tut es leid. Du hast hier nicht sehr viele Freunde, nicht wahr?‹
Er wandte sich ab und sagte nichts. Althea hatte das Gefühl, ihn trösten zu müssen. Sie trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die knochige Schulter. Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen, aber er wich nicht zurück und versuchte auch nicht, sie abzuschütteln.
›Ich.. ich habe gar keine Freunde‹, kam es nach einer langen Stille leise zu ihr herübergeschwebt. ›Du bist die Einzige, mit der ich überhaupt einmal reden konnte. Meine Geschwister dienen alle schon der Quelle, und die anderen Feenjungen und Mädchen.. sie meiden mich.‹
Althea bewegte sich langsam um ihn herum, bis sie ihn ansehen konnte. Er hatte den Kopf gesenkt und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. ›So ging es mir auch mein ganzes Leben lang. Nur hatte ich eine Familie, die es mir leicht gemacht hat. Meine Cousins, meine Cousine, und meine Freundin Noemi. Sie standen alle zu mir.‹
›Erzählst du mir davon? Ich möchte so gerne von deinem Leben hören, wie es in deiner Welt ist und.. und..‹ Er blickte geradezu flehendlich auf.
Althea lächelte und tat ihm den Gefallen, auch um ihn ein wenig zu trösten. Sie erzählte ihm von den schönen Seiten ihres Lebens, von ihrem Vater, von ihren Abenteuern mit Phelan und den vielen, vielen Dingen, die sie erlebt hatten. Aber auch ihre Flucht ließ sie nicht aus. Er hörte stumm und mit leuchtenden Goldaugen zu, sog alles in sich hinein.
›Oh, ich wünschte, ich könnte das alles einmal mit eigenen Augen sehen‹, sagte er traurig. Sie saßen längst Schulter an Schulter auf dem Felsen und sahen auf das weite Meer hinaus. ›Wie aufregend das sein muss..‹
Althea senkte den Kopf, weil sie so plötzlich die Trauer überkam, dass sie schlucken musste. ›Aufregend? Verängstigend und bedrohlich, das trifft es wohl eher. Vergiss nicht, dass ich verfolgt werde. Ich musste alle zurücklassen, die mir lieb und teuer sind, und sie kommen gewiss um vor Sorge um mich. Ti’Anan..‹, sie wartete, bis er sie ansah, ›wirst du mir eine Frage beantworten? Ich meine, wirklich ehrlich beantworten?‹
›Ja, natürlich. Was denn?‹, fragte er verwundert.
›Als sie mich zurück in den Palast trugen, da war ich nicht ganz weg, und ich hörte, wie sie sich über mich unterhielten. Ich habe sie etwas sagen hören, was ich nicht verstehe. Bitte, erkläre es mir! Ich muss es verstehen.‹ Althea bekam es wirklich mit der Angst zu tun, als sie sah, wie sich alles an Ti’Anan sträubte.
Er sprang erregt auf. ›Was bin ich?‹, forderte er von ihr zu wissen.
Die Antwort wusste Althea: ›Du bist halb Mensch, halb Feenwesen.‹
›Und was geschieht mit mir?‹
Althea hob die Schultern. ›Irgendwann wirst du deinen Brüdern und Schwestern folgen und der Quelle dienen. So sagten sie es mir.‹
Ti’Anan fauchte: ›Ja, und ich will es nicht! Ich will nicht immer in einem ewig gleichen Leben fest stecken, ohne Hunger, ohne Durst, ohne Erlebnisse! Ich will.. lernen und reisen und.. Dinge erleben, und..‹
›Ja, aber was hat das mit mir zu tun?‹, fragte Althea dazwischen und unterbrach damit, dass er sich in seine Wut hineinsteigerte.
›Begreifst du denn nicht?‹ Ti’Anan war kurz davor, sie zu schütteln, und erkannte gerade noch rechtzeitig, dass es einmal mehr mit ihm durchging. ›Entschuldige, das kannst du ja nicht wissen. Warum bin ich wohl der letzte Mischling hier?‹
Sie stutzte. ›Weil die Tore zu sind? Es kommen keine Auserwählten mehr und sie wollen..‹ Althea wurde blass und musste schlucken. Die Bedrohung, die sie die ganze Zeit gefühlt hatte, nahm unvermittelt Gestalt an. Sie schlug die Hände vors Gesicht. ›Aber.. das kann doch nicht..‹
›Oh doch!‹, sagte Ti’Anan unerbittlich. ›Sie werden dich zwingen, dich mit ihnen zu vereinigen. Ob nun Vater oder eines seiner Weisen, das ist unerheblich. Sie brauchen Nachwuchs, sonst wird die Quelle irgendwann stillstehen. Bereits jetzt sterben die ältesten meiner Brüder und Schwestern.‹
›Und ich.. ich soll..‹ Althea war nicht in der Lage zu sprechen. Ihr wurde erneut übel. Sie sah zu Ti’Anan auf, flehentlich, bat ihn stumm, irgendetwas zu sagen, dass es nicht wahr wäre, nur irgendetwas.
Aber er war noch nicht fertig. Er hockte sich vor sie hin und nahm ihre Hände. ›Für jede Auserwählte ist das der sichere Weg in den Tod.‹
›Warum?‹, flüsterte sie.
Statt einer Antwort ließ er ihre Hände los, stand auf und drehte sich um. ›Fass mich einmal an.‹
Verwundert erhob sich Althea und streckte die Hände aus. ›Was..?‹
›Berühre mich an den Flügeln, aber gib acht.‹
Althea tat, was er verlangte, und war überrascht. ›Sie sind ja ganz hart! Deshalb kannst du nicht fliegen und.. au! Die Kanten sind messerscharf!‹
Er drehte sich um und starrte auf ihren blutenden Finger. ›Es ist rot?‹, fragte er voller Verwunderung.
›Ja, das ist es, und eures ist silbern, nicht wahr? Deshalb dachte die Königin, dass meine Augen bluten. Warum hast du mir das gezeigt?‹ Sie verlangte Ehrlichkeit von ihm.
Er zögerte, aber es gab kein Zurück mehr. ›Was glaubst du, geschieht mit einer Frau, die ein Kind wie mich zur Welt bringt?‹ Er nickte bitter, als er Althea begreifen sah. ›Glaubst du, es gefällt mir, für den Tod meiner eigenen Mutter verantwortlich zu sein?‹
›Oh, Ti’Anan!‹ Ohne dass Althea es merkte, liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie konnte einfach nicht mehr. Angst, Hilflosigkeit und das Gefühl, in einer ausweglosen Falle zu sitzen, verstärkten sich zu einem Wust der Gefühle, gegen den sie nicht mehr ankam. Halt suchend lehnte sie sich an ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf, und er zog sie tröstend in eine feste Umarmung. Sie wurde von Licht und seiner Wärme umhüllt und gab sich dem einen Moment lang völlig hin, schöpfte Trost und Kraft daraus. Aber plötzlich merkte sie, dass dort noch etwas anderes war, von seiner Seite, aber auch von ihrer. Ein kleiner Teil von ihr wünschte sich, dass seine Hände, die nur leicht über ihren Rücken strichen, weitermachten, immer weiter. Es war neu, dieses Gefühl, und zusammen mit seiner Fremdartigkeit beunruhigte es sie zutiefst. Sie konnte damit nicht umgehen.
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