1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Hermann geht gespannt dem Dreigespann nach; er ahnt etwas, will es aber genau wissen. Wenn das nicht Bernhard ist, sein Freund und Kollege, der dort den Eimer trägt, was nimmt der auf sich und wofür? Glaubt er wirklich noch, die Fahrt sei aufzuhalten? Was mag in dem Eimer sein? Der Stiel einer Deckenbürste ragt heraus. Hermann schleicht ihm nach. Er will herauskriegen, was Bernhard treibt, weshalb er in dieser Verkleidung als Maler getarnt, umhergeht. Auf dem Boden des ersten Hausflures findet Hermann die Erklärung für diese Maskerade, ein dünnes Bündel Flugblätter. Sie fordern zur Bildung der Einheitsfront auf. Hermann schiebt das Blatt in die Brusttasche und rennt auf die Straße. Der Mann im Malerkittel ist nur noch als ein kleiner weißer Punkt sichtbar. Hermann geht ihm nach. Die Straße ist unbelebt. Was sich in diesen Wochen ereignet hatte an Mord und Gewalttat, flüstert man sich im vertrauten Kreise zu. Weshalb setzt sich Bernhard dieser Gefahr aus?
Hermann muss einen Augenblick lang stehenbleiben und sich sammeln. Hinter sich hört er Lärm. Eine Gruppe Menschen steht gestikulierend auf der Straße. Er beschleunigte seinen Schritt, lässt im Gehen das Flugblatt aus seiner Tasche gleiten. Jetzt nicht auffällig benehmen, denkt er, gibt die vorgetäuschte Ruhe auf und läuft los, bleibt vor einem Haus stehen und sieht sich vorsichtig um.
Im Hausflur ertönen hallende Schritte. Wer ist das? Hier kann Bernhard noch nicht durch sein. Die Schritte kommen näher, die Haustür wird von innen geöffnet, und Bernhard steht in der Tür, im Straßenanzug, eine Zigarette rauchend, ohne Eimer und Kittel. Sie messen sich mit Blicken.
Bernhard fasst sich als erster. „Hermann!“, sagt er. Es scheint Hermann, als wäre Bernhard um eine Spur blasser geworden.
„Was machst du denn hier?“, fragt er.
„Ich bin dir nachgegangen", sagt Hermann.
Bernhard wirft die Zigarette weg. Er kämpft einen Kampf mit sich, weglaufen oder dableiben. Der kleine Drucker weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Ist sein Kollege ein Verräter?
„Tu. Mir den Gefallen und frag jetzt nichts", sagt Hermann schnell, „komm mit zu mir, bis die Luft rein ist.“
Bernhard schlägt den Kragen hoch und geht mit. Erst in der Wohnung lässt er sich erschöpft auf einen Küchenstuhl nieder, stützt den Kopf in beide Hände und wartet.
Hermann tritt an das Fenster und sieht hinunter. Nichts Auffälliges zu sehen. Die Leute haben sich wohl verlaufen.
„Willst du Bier?“, fragt Hermann. Bernhard nickt. Sie trinken es gleich aus der Flasche. Dann schüttelt Hermann den Kopf und sagt: „Muss das sein? Du machst dich doch unglücklich, Mann. Bernhard, du bist doch kein Dummer!“
„Du bist wohl schlauer, was?“
„Na, beruhige dich nur“, sagt Hermann. Vielleicht hat er ja recht, denkt er.-
Nun haben sie ihn holen wollen, nun suchen sie ihn überall, wahrscheinlich auch Käthe, die mit ihnen gelacht und gespielt hat, mit Renate ins Theater ging, beim Gardinenanmachen half und ein guter Mensch war.
„Papa", fragte Karl, „werden wir nun alle verhaftet?“ Man konnte sehen, dass den Vater schwere Sorgen drückten.
Der Vater schüttelte den Kopf. Es war noch einmal glimpflich vorübergegangen.
„Redet nicht darüber“, sagte er, „und nun gehen wir schlafen, aufräumen können wir morgen.“
Sie lagen wieder in ihren Betten, nichts war ihnen geschehen, aber Karl hatte zweierlei in diesen Nachtstunden gelernt. Die Wirklichkeit der Welt passte nur unvollkommen zu der erdachten in der Nussschale, in der hölzerne Hunde bellen konnten, Schiffe auf eingebildeten Meeren fuhren, ohne Motor und aus Papier, wie man es wollte. Zu gewissen Gelegenheiten waren Lügen erlaubt und gefordert, man musste es selber wissen, wann. So weit brauchte keine Wahrheitsliebe zu gehen, dass sie einen ins Verderben stürzt. Wenn das auch bei den Lehrern zu hören war: Man muss immer die Wahrheit sagen, auch wenn sie einem schadet! Das musste man nicht, niemand tat es, niemand kam auf diese törichte Idee, die die Lehrer verbreiteten.
Nach diesem Ereignis verschwanden die Schreiters aus dem Gesichtsfeld der Familie Kirchhoff.
Nach den wilden Tagen schien eine Pause dringend nötig. Jetzt galt es, sich auf die Einsegnung Renates vorzubereiten und einen Beruf für sie zu finden. Die Zimmer mussten tapeziert werden, das nahm ein paar Tage in Anspruch. Die ersten grauen Haare zeigten sich an den Schläfen; man würde demnächst eine stärkere Brille brauchen, man war vierzehn Jahre älter geworden, keine leichten vierzehn Jahre. Eine Verschnaufpause hatte man eigentlich verdient, man durfte abwarten was sich entwickelte, nicht wieder ohne Arbeit sein, ein paar Sachen anschaffen, eine Reise vielleicht im Sommer, den Kindern einmal was anderes zeigen als Straßen. Sich vor allem um Karl kümmern, diesen Jungen, der sich so gut entwickelte, schwer lernte, aber was er gelernt hatte, das saß dann auch. Man konnte bald wie mit einem Erwachsenen mit ihm reden, die Bemühungen zahlten sich schon jetzt aus. Man musste sich endlich selbst mal was bieten. Das Leben war so hingegangen, erst der Krieg, dann Inflation, Arbeitslosigkeit; man ging langsam auf die Vierzig zu, die besten Jahre waren schon weg, eine Zeit der Ruhe würden ihm nicht schaden, dem Hilfsdrucker Hermann Kirchhoff.
Die Konfirmation sollte eine große Familienfeier werden, der Höhepunkt in Renates Leben. Karl betrachtete die Schwester mit heimlichem Stolz. Sie war in diesen Jahren ein schönes Mädchen geworden mit ihrem schmalen Gesicht, den kühlen, hellen Augen und dem starken Mund. Früher hatten sie sich oft gestritten, in diesem Jahr war sie sanfter geworden. Es schien ihm, als sähe sie ihn manchmal mitleidig an, ein unerklärliches Mitleid, denn er fühlte sich ganz wohl in seiner Haut. Gelegentlich wurde sie beinahe zudringlich mit ihren Versuchen, ihn wie ein Kleinkind zu behandeln. So verlangte sie, dass er an der Hand gehen sollte. Die ihre war feucht, was Karl nicht mochte. Versuchte er sich loszumachen, brach sie unvermutet in Tränen aus, und er wusste erst nicht, was los war. Wo sie ihn erwischen konnte, drückte sie seinen Kopf und putzte und schabte an ihm herum.
„Die Weiber sind eben dämlich", stellte er bei sich fest und gab damit wieder, was er hörte und sah, in der „Friedlichen Einkehr“ und anderswo. Er redete es nach, ohne zu wissen, worum es eigentlich ging, merkwürdig berührt durch das wechselhafte Verhalten Renates. In ihrem gemeinsamen Zimmer in der Kastanienallee häufte sie, ihrer Reife entsprechend, neue Schätze, die für Karl nichts bedeuteten. Dafür verschenkte sie ihre alten und Karl heimste manchen Fund ein. Sie zog sich seit einiger Zeit auch im Dunkeln aus. Im Bett wünschte sie lange Gespräche mit ihm zu führen, die regelmäßig damit endeten, dass Karl einschlief.
Als die Wohnung frisch tapeziert war, als alles noch nach Leim und Farbe roch, durften sie wieder in ihr Zimmer. Karl lag in seinem Bett und lauschte hinüber. Die Schwester regte sich nicht. Er hörte ihre unregelmäßigen Atemzüge. Sonderbare Gedanken zogen ihm durch den Kopf.
„Jetzt wirst du bald eingesegnet“, sagte er, „da ist man erwachsen.“
„Man ist wie immer“, sagte sie.
Mit dieser Antwort war Karl nicht zufrieden. Sie rechtfertigte seiner Ansicht nach nicht den Aufwand, der anlässlich der Einsegnung getrieben wurde.
„Muss man viel im Konfirmandenunterricht lernen?“, fragte er weiter.
„Es geht“, sagte sie gedehnt, „du musst nur immer ja und amen sagen, die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und so was. Es ist ganz leicht.“
Karl konnte ihr Gesicht nicht sehen, und er hätte etwas darum gegeben, sie gerade jetzt zu beobachten. Ihre Stimme klang seltsam gepresst. Wahrscheinlich würde sie gleich heulen.
„Glaubst du denn nicht, was die Lehrer sagen?“, fragte er.
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