„Wir sollen auf Gott vertrauen, heißt es. Dann ist alles gut, der Herr wird alles richten. Wir müssen beten. Ich habe auch gebetet, aber es hat nichts genutzt. Das verstehst du noch nicht."
Karl hatte Mühe, ihr zu folgen. Er lauschte auf die belegte Stimme der Schwester. Sie hatte gebetet und das half nichts? Dass sie so dumm war! Das wusste man doch, dass es nichts half, höchstens gelegentlich, auch dann noch anders, als man gewünscht hatte. Außerdem waren diese Bettelaktionen an höchster Stelle unzulässig, denn das war doch der Trick - der geringste Zweifel schloss die Erfüllung eines Wunsches von vornherein aus. Seine Gedanken kehrten zurück zu ihrer Bemerkung.
„Worum hast du denn gebetet?"
„Ich wollte auf die Kunstgewerbeschule, aber Mutter sagt, es geht nicht und wäre auch Unsinn.“
Es geht nicht, dachte Karl. Wir haben kein Geld. Er begriff ihre Not.
„Ich soll Verkäuferin werden."
Es entstand eine Pause. Unter einer Verkäuferin konnte Karl sich eine Frau mit einem Kittel vorstellen, die Mehl und Zucker in Tüten füllte und meist gutmütig und dick war. Er hätte nichts gegen diesen Beruf gehabt, aber wenn Renate etwas anderes wollte, durfte man sie nicht daran hindern.
„Und du willst nicht Verkäuferin werden? Dann musst du es sagen!" Karl richtete sich in seinem Bett auf. Es schien ihm undenkbar, dass sie sich ohne Gegenwehr fügen wollte.
„Das hat keinen Zweck“, sagte Renate, „Mutter meint, ich heirate ja doch, dann ist das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Und da hat sie ja recht.“
„Und heiratest du wirklich?“, wollte Karl noch wissen, denn sollte das der Fall sein, konnte man nichts dagegen sagen.
„Quatsch“, sagte Renate. Jetzt schien sie zu lachen.
Karl hatte einen rettenden Einfall.
„Was sagt denn Papa“?
„Ach“, sagte sie, „der macht doch immer was Mutter will.“
Das war Karl neu. Hatte ihn der Vater nicht oft genug herausgehauen. Damals, als er zu Löwe gegangen war, weil Karl in Angst und Schrecken lebte. Sollte es Renate schlechter ergehen als ihm?
„Versuch es doch wenigstens“, beschwor er sie.
Renate antwortete nicht mehr. Sie wollte dem Bruder nicht zeigen, dass sie weinte.
Karl ließ sich zurückfallen und zog die Decke hoch. Er fror an den Beinen und konnte nicht einschlafen. Das Schicksal der Schwester beschäftigte ihn weiter. Sie sollte tun, was sie nicht wollte, warum?
Arbeit war etwas wie Schule. Man musste, ob man wollte oder nicht, man konnte der Arbeit keinesfalls entrinnen. Der Opa hatte sogar schon mit acht aufs Feld gemusst, oder mit zehn, einerlei, jedenfalls sehr früh. Jetzt freilich lag er meist auf dem großen roten Sofa, aber dieses Glück widerfuhr nur wenigen Menschen. Karl empfand zum ersten Male die Hilflosigkeit menschlicher Bemühungen vor einem so furchtbaren Ding wie beispielsweise der Arbeit, die sie alle fraß, wie der Wolf die Geißlein.
Er beschloss, mit dem Vater zu reden.
4. Handwerk hat goldenen Boden
Karl sitzt neben Vater und Mutter, sitzt zwischen ihnen, wahrscheinlich aus Vorsicht, denn eine Kirche ist etwas, dass er noch nicht kennt. Es ist eine kleine Kirche mit schmalem Mittelschiff und dunkel gebeizten Bänken. In der ersten Reihe sitzen die Konfirmanden. Der Pfarrer hat sie hereingeführt. Dazu spielt die Orgel. Man kann das Instrument nicht sehen, es sei denn, man will die langen, hohen Pfeifen dafür halten. Der Vater hat Karl in Eile einiges erklärt - längst nicht genug für den Wissensdurst seines Sohnes.
Die Orgel verklingt, der Pfarrer, ein kleiner alter Mann, weißhaarig und gebückt durch die Last der Jahre, steht mit dem Rücken zu ihnen vor einem Tisch, der mit einer Decke belegt ist. Darauf stehen ein Kruzifix, frische Blumen und weißliche Kerzen, die aber nicht brennen. Sie sind wohl bloß zur Zierde da, wie Mutters Kerzen in dem porzellanen, dreiarmigen Leuchter auf der Anrichte, die auch nie angezündet werden. Dann dreht sich der Pfarrer um, hebt die Hände, und die Menschen müssen aufstehen. Karl verpasst den richtigen Augenblick, bekommt einen sanften Rippenstoß von der Mutter, und steht nun auch schnell auf. Sie müssen etwas singen. Er versteht den Text nicht, aber die Orgel spielt ihnen das Lied vor. So geht's einigermaßen, auch weil der Pfarrer sehr laut mitsingt Karl versucht, sich den verschiedenen Tonhöhen anzupassen, und es gelingt ihm ganz gut. Später dürfen sich die Menschen wieder setzen.
Karl sucht den Opa, der im Bratenrock neben der Oma und der Tante sitzt, schräg hinter ihnen. Der Opa macht ein Gesicht, als hätte er soeben eine ganz schlechte geschäftliche Nachricht bekommen, die Mundwinkel sind leicht herabgezogen; die Oma hält ein Taschentuch in der Hand, sicher wird sie gleich weinen. Nur die Tante hat ein freundliches Gesicht, wie immer. Karl versucht dem Opa ein Zeichen zu geben: „Ich bin da, siehst du“, aber der Opa schickt ihm einen strafenden Blick zu und sieht ihn dann überhaupt nicht mehr an. Die großen Hände mit den schwarzen Haaren darauf liegen übereinander im Schoß. Beim Singen reißt der Opa den Mund so weit auf, das man sein festes weißes Gebiss sehen kann, dabei hat er die Augen geschlossen. Und das ist schon merkwürdig.
Von der Oma weiß Karl, dass sie jeden Sonntag in die Kirche geht, selbst wenn sie erst weit nach Mitternacht ins Bett gekommen war. Das ist demnach eine wichtige Angelegenheit für die Großen, und es ist offenbar kein Zwang. Man tut es oder tut es nicht. Der Vater oder auch die Mutter gehen nie in die Kirche. Renate musste zum Konfirmandenunterricht, sonst hätte sie eine Kirche wahrscheinlich nie von innen gesehen. Karl kommt bei Beginn der Predigt zu dem Schluss, es müsse eine immerhin bedeutende Sache sein, wenn alle plötzlich so großen Wert darauf legten. Aber es ist auch wirklich schön. Die Orgel spielt, es hört sich an, als käme die Musik direkt vom Himmel herunter, weil man den Menschen nicht sieht, der das Instrument in Bewegung setzt.-
Im Übrigen ist es kalt, hundekalt für einen Mai, oder wie es der Opa ausgedrückt hat vorhin: „Das ist der beschissenste Mai, den ich je erlebt habe!“ Das war, als sie im dichten Schneegestöber, eingehüllt in ihre Mäntel, geschützt durch Regenschirme in die Kirche marschierten. Nicht einmal die Kleider konnte man sehen, die teuren, die mit soviel Aufregung beschafft worden waren und die nun niemand auf der Straße bewundern konnte. Bloß der Opa sah würdevoll aus in seinem Zylinder, eine Kopfbedeckung, die er, Karl, sich nachher genauer ansehen wird. Man kann sie zu einem flachen Teller zusammendrücken, und dann wieder, klapp, springt sie zu einer großen, spiegelblanken Röhre auf. –
Der Pfarrer ist auf die Kanzel gestiegen, einen kleinen Vorbau an einer Säule mit einem Dach, obwohl es doch hier nicht regnen kann. Er stützt sich auf die Brüstung, hat die Hände gefaltet und den Kopf darauf gelegt. Er wird wohl nachdenken, was er jetzt sagen soll. Das ist offenkundig: Er will eine Rede halten, wie ein Schullehrer. Jetzt löst er sich mit einem heftigen Seufzer - die Menschen atmen ordentlich auf. Karl dreht sich um und sieht, wie der Opa mit dem Fingernagel seines Zeigefingers etwas aus seinen Zähnen puhlt. Dann beginnt die Rede, der man rein gar nichts entnehmen kann.
Vorhin hat der Vater mit Renate gesprochen, Karl hat nicht hören können, wovon die Rede war, aber am Schluss ist Renate dem Vater um den Hals gefallen, und der Vater hat ihre Schultern gestreichelt. Dann musste er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche fischen, die Brille abnehmen und sich die Tränen fortwischen. Karl selber hat etwas geschluckt bei diesem Anblick. Immerhin hat er daraus entnommen; dass nun alles in Ordnung ist, und dass Renate nicht in den Kiosk muss, den der Opa ihr vorbestimmt hatte. Auch braucht sie nicht zu heiraten was sie doch nicht will.
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