1 ...6 7 8 10 11 12 ...34 Sie hatte ihm etwas gegeben, ob aus Dank oder damit er wieder zu ihr ging, wusste er nicht zu sagen. Niemandem sollte er davon etwas sagen, nicht einmal seinem Bruder. Er hatte sich daran gehalten, auch wenn er nicht verstand, was diese Geheimniskrämerei zu bedeuten hatte. Irina würde ihre Gründe haben. Sie tat nie etwas grundlos. Bei ihr hatte alles einen Sinn.
Jetzt sah er keinen Sinn mehr darin, im Lager darauf zu warten, dass der Brand unter Kontrolle gebracht wurde. Er wollte zu ihr, wollte mit ihr sprechen, ihre Stimme hören, in ihre wunderschönen grünen Augen sehen.
Sein Bruder betrachtete ihn misstrauisch, als er sich seinen Uniformrock anzog und zuknöpfte.
"Wo willst du hin?", fragte dieser schließlich, als er die Absicht erkannte.
"Ich wollte mich erkundigen, was wir heute zu essen erwarten dürfen."
"Irgendwelches eingemachtes Zeug aus der Dose, falls sie diese aufbekommen. Ich weiß nicht, warum wir so ein Zeug mit uns schleppen mussten, wenn wir gar nicht das richtige Werkzeug dafür besitzen. Schmecken tut's auch nicht."
"Komm schon, Heinrich, so schlecht ist die Erfindung nicht. Das gibt es noch nicht so lange, da gibt es eben Probleme bei der Handhabung. Wenn es diese Büchsen längere Zeit geben wird, werden wir ihren Vorteil schon erkennen."
"Ich wüsste nicht, dass ich mir auf Reisen eine Dose mitnehme und die unterwegs öffne. Ein frisches Mahl in einem Gasthaus ziehe ich diesem Fraß jedenfalls vor."
Er zuckte mit den Schultern und ließ seinen Bruder reden. In gewisser Weise hatte er recht, die Blechbüchsen zu verteufeln. Geschmacklich war deren Inhalt wirklich nicht besonders, auch wenn es sättigte. Es hielt die Speisen für mehrere Monate genießbar. Das war auch der einzige Vorteil, den man daraus ziehen konnte. Öffnen ließen sie sich mehr schlecht als recht. Was nützte eine Blechbüchse, wenn man sie nicht öffnen konnte, um den Inhalt herauszuholen? Das konnte nicht im Sinne des Erfinders sein. Ob der überhaupt so weit gedacht hatte, dass man irgendwann an den Inhalt wollte?
Er verließ das Zelt und schlug den Weg ein, als wolle er sich tatsächlich erkundigen, was es heute zu Essen geben würde. Als er aus Sichtweite ihres Zeltes war, bog er ab und näherte sich dem Brandherd, der Moskau momentan war.
Er war noch nicht weit gekommen, als er das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Unauffällig blickte er hinter sich, konnte niemanden entdecken. Das Lager wirkte wie ausgestorben. Wer nicht in der Stadt war, hielt sich in seinem Zelt auf und kam nicht heraus. Er ging weiter, dennoch blieb das Gefühl, dass jemand ihn beobachtete und hinter ihm herlief.
Seitdem er sich von Irina verabschiedet hatte, war jemand hinter ihm her. Nie hatte er jemanden gesehen und doch war er sicher, dass jemand ihn auf Schritt und Tritt verfolgte. Einmal hatte es so ausgesehen, als wäre jemand im Zelt gewesen und hätte dort nach etwas gesucht. Er hatte keinen Beweis dafür, weil alles noch an seinem Platz lag, wie er und sein Bruder das Zelt verlassen hatten. Dennoch hatte ein Geruch in der Luft gelegen, der dort normalerweise nicht zu riechen war.
Was suchten sie bei ihm? Reichtümer hatten sie im Gegensatz zu ihren Kameraden nicht an sich gerafft. Das konnte es nicht sein. Hatte jemand mitbekommen, wie Irina ihm die Karte gegeben hatte? Das hatte sie im Haus getan und dort war niemand außer ihnen beiden gewesen. Wieso wurde er seitdem verfolgt? Irgendjemand musste etwas mitbekommen haben, anders konnte es nicht sein. Warum verfolgte man ihn?
Hatte das Beobachten gar nichts mit der Karte zu tun, sondern war einfach nur Zufall? Waren der Franzose und sein Kumpane hinter ihm her, um ihm eine Abreibung zu verpassen? Dieser widerliche Franzmann hatte noch eine Rechnung mit ihm offen. Einmal hatte er ihn gedemütigt, das andere Mal war er ihm und seinen Freunden entwischt.
Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, das sichere Lager zu verlassen und sich auf den Weg zu Irina zu machen. Aber es ließ ihm keine Ruhe. Er musste wissen, was mit ihr war, ob das Feuer auch ihr Zuhause bedrohte.
Wenn er sich vorsah, würde nichts passieren. Am besten ging er weiter, als sei nichts geschehen, zeigte seinen Verfolgern nicht, dass er wusste, er wurde beobachtet.
Dennoch beschleunigte er, versuchte Haken zu schlagen. Dabei musste er immer aufpassen, dass er sich dem Feuer nicht näherte. Der Wind lag in seinem Rücken, konnte jederzeit die Richtung wechseln und von vorne kommen. Die Flammen würden dann auf ihn zukommen. Vom Feuer wollte er nicht eingeschlossen werden. Es musste ein furchtbarer Tod sein, wenn man lebendig von den Flammen geröstet wurde. Solange er sich vom Feuer fernhielt, konnte ihm nichts passieren.
Wo er entlang ging gab es nicht mehr viel, was einem Raub der Flammen werden könnte. Das Feuer hatte hier bereits gewütet. Von den ehemals prächtigen Häusern standen nur noch Gerippe. Verkohlte Balken ragten in den Himmel, erinnerten daran, dass hier einmal ein Haus gestanden hatte.
Es war gruselig, wie es hier aussah. Eine Straße nach der anderen war vom Feuer niedergemacht worden. Es wirkte wie eine Geisterstadt, die vor vielen Jahren verlassen worden war. Nur hatten hier bis vor wenigen Tagen noch Menschen gelebt. Jetzt zeugte nichts mehr davon.
Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Doch unbeirrt setzte er seinen Weg fort.
Vielleicht hätte er nicht allein gehen, sondern sich von seinem Bruder begleiten lassen sollen. Der würde zwar nicht verstanden haben, warum er unbedingt ins brennende Moskau wollte und dabei sein Leben riskierte, aber er hätte höchstwahrscheinlich seiner Bitte entsprochen. Sein Bruder hatte ihrer Mutter versprochen, gut auf ihn aufzupassen und ihn wieder lebend nach Hause zu bringen. Ein schwerwiegendes Versprechen, dass er hatte abgeben müssen. Er wollte nicht wissen, wie die Mutter reagieren würde, falls sein Bruder ohne ihn nach Hause heimkehrte.
Was machte er sich darüber Gedanken? Das war fast so, als würde er hier nicht lebend rauskommen. Am besten dachte er darüber nicht mehr nach. Doch eine leise Stimme in seinem Inneren warnte ihn weiterzugehen. Er solle lieber umkehren, bevor es zu spät sei.
Er hörte nicht darauf. Wenn er immer auf seine innere Stimme gehört hätte, würde er längst in einem kühlen Grab liegen. Seine Knochen würden vor sich hinmodern und seine Mutter um ihn trauern. Nein, man sollte nicht immer auf das hören, was einem die Eingebung sagte. In den Fällen, wo sich seine innere Stimme zu Wort gemeldet hatte, war es meist besser gewesen, aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Es hatte ihm eher geholfen, vor allem war er jedes Mal mit heiler Haut davon gekommen.
Die Schritte hinter ihm waren nun deutlich zu hören. Da gab sich niemand mehr die Mühe, sich unauffällig zu verhalten. Er sollte wissen, dass er verfolgt wurde.
Langsam beunruhigte es ihn. Was bezweckte sein Verfolger damit? Wollte er ihm Angst einjagen? Sollte er in Panik verfallen und Entscheidungen treffen, die er bei klarem Verstand nicht getätigt hätte? Was sollte das nur?
Er wollte in einem normalen Tempo weitergehen, doch seine Beine reagierten nicht auf ihn. Sie setzten immer schneller auf dem Boden auf. Bevor ihm klar wurde, was geschah, lief er bereits die Straßen entlang. Auch sein Verfolger war in einen Laufschritt verfallen.
Nun hörte er es. Das war nicht nur eine Person, die hinter ihm her war, sondern mehrere. Zwei oder drei, genau konnte er es nicht heraushören.
Ihn überlief ein kalter Schauer.
War das tatsächlich der Franzose, der ihm Rache geschworen hatte? Wie hatte er ihn im Lager ausfindig machen können, ohne dass er es bemerkte?
Er lief weiter, so schnell er nur konnte. Diesem Pack durfte er keinesfalls in die Hände fallen, da sie sonst mit ihm kurzen Prozess machen würden. Einmal hatte er ihnen dank Irinas Hilfe entkommen können. Heute würde er nicht so viel Glück haben. Irina könnte sich vor dem Feuer in Sicherheit gebracht und die Stadt verlassen haben. Er war ganz auf sich allein gestellt.
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