Er verstand immer noch nicht, warum Moskau nicht viel eher geräumt worden war. Es schien, als habe niemand damit gerechnet, dass Napoleon auf die Stadt des Zaren zuhalte. Die Russen hatten die Schlacht von Borodino unter erheblichen Verlusten verloren. Wie konnten sie annehmen, der Korse würde sich damit zufriedengeben? Napoleon würde erst von Russland ablassen, wenn er es sich einverleibt hatte, wie er es mit großen Teilen Europas getan hatte. Ob Zar Alexander I. da mitspielen würde und der Korse sich an dem großen Stück nicht verschluckte?
Die russische Arme war fort, aber ihre Verletzten hatten sie da gelassen. Wer den Rückzug behinderte, wurde da gelassen, um das eigene Leben nicht zu retten. So war es in jeder Armee und selbst die einfachen Menschen oder die Tiere hielten sich daran. Wer sie aufhielt und dadurch ihr eigenes Leben gefährdete, wurde einfach zurückgelassen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Er wich vor einen Feuer zurück, das mitten auf der Straße loderte. Obwohl alle gestrigen Brände gelöscht sein sollten, brannte es immer noch an einigen Stellen in der Stadt. Entweder waren nicht alle gelöscht worden oder seine sogenannten Kameraden hatten neue Feuer entfacht. Diesem ungehobelten Haufen konnte man alles zutrauen.
Sie sollten sich hier nicht allzu lange aufhalten. Am besten wäre der Rückzug. Der groß angekündigte russische Winter würde bald vor der Tür stehen. Aber dieses Ungeheuer schien überhaupt nichts mehr wahrzunehmen. Harrte einfach nur aus und wartete darauf, dass der Zar sich bequemte, ihn sprechen zu wollen. Da könnte er bis zum St. Nimmerleinstag warten, aber Alexander würde nie kommen. Warum gab er nicht einfach zu, dass er zu viel gewollt hatte und gescheitert war? Eine Niederlage einzugestehen, kam für den Bezwinger Europas natürlich nicht in Betracht. Es würde Schwäche bedeuten und das konnte er sich nicht leisten.
So wie er keine Schwäche zeigte, verlangte er es auch von seinen Soldaten, selbst wenn diese überhaupt nicht gewillt waren für ihn zu kämpfen. Was hatte er mit diesem Ungeheuer zu tun?
Er hatte nicht einmal für ihn kämpfen wollen, aber hatte das Napoleon oder irgendjemand anderen interessiert? Wer im richtigen Alter war, wurde rekrutiert, ob er nun wollte oder nicht. Jeder hatte in der Grande Armée zu kämpfen, denn diese brauchte ständig Nachschub, um ihre Verluste aufzufüllen. Frankreich gab das nicht alles her, irgendwann wären dort die Ressourcen erschöpft gewesen, deshalb bediente man sich der jungen Männer in den Dörfern, Orten, Städten und Ländern, die erobert worden waren. Gefragt wurde niemand, sondern einfach in eine Uniform gesteckt. Wer sich wehrte, gegen diese Ungerechtigkeit aufbegehrte, der musste mit strenger Bestrafung rechnen. Sobald man irgendwie erfasst war, konnte man nichts mehr tun, war einer unter vielen und konnte nur hoffen, dass man die nächste Stunde, den nächsten Tag oder die nächste Woche überlebte.
Jetzt waren sie hier in Moskau, hatten den Marsch durch Russland überlebt, um sich anschließend zu Tode zu langweilen. Einige konnten es nicht lassen, gingen in die Stadt und gingen plündernd durch die Häuser. Davon hatte er sich immer ferngehalten, denn was brachte es, andere Menschen auszurauben? Sie hatten ihm genauso wenig getan wie er ihnen, also sollten sie unbehelligt bleiben und weiter ihren Tätigkeiten nachgehen. Was sollte er mit den ganzen Bildern oder sperrigen Gegenständen, die seine Zwangskameraden von ihren Touren mitbrachten? Das alles musste auf dem Rückweg transportiert werden. Dafür gab es kaum genügend Transportmittel und wenn der Winter anbrach, würden sie es überhaupt nicht mehr transportieren können. Er hatte gehört, dass der russische Winter die harten Wege aufweichen und zu einer schlammigen Masse werden ließ. Hoffentlich würde sich dieses Ungeheuer rechtzeitig zum Rückzug entscheiden, damit sie diesem Wetter entgingen. Aber je mehr Zeit verstrich und je näher der Herbst kam, desto mehr war er davon überzeugt, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würden.
Er ging auch in die Stadt, aber nicht um zu plündern, sondern um sich die Zeit zu vertreiben. Dabei hatte er auch ein junges Mädchen gerettet, das von einem dieser widerlichen Franzosen geschändet werden sollte. Er hatte nicht lange nachgedacht, sondern sich auf den älteren und viel kräftigeren gestürzt. Nur dank seiner Schnelligkeit war es ihm gelungen, den anderen zu besiegen. Dieser war fluchend verschwunden, mit dem Wissen, dass er sich nicht über ihn beschweren konnte, weil auf Übergriffe auf die noch vorhandene Bevölkerung schwere Strafen standen. Die Moskauer sollten sie nicht als Feinde sehen, sondern als Freunde. Das war schwer, denn nicht alle hielten sich an die Regeln, eigentlich niemand. Jeder tat das, was er für richtig hielt. Einige wurden bestraft, aber die meisten kamen ungeschoren davon. Insgeheim war es wahrscheinlich auch so gewollt.
Das junge Mädchen war gleich geflohen, nachdem sie von ihrem Angreifer befreit war. Er hatte sich nicht einmal für das Verhalten seines so genannten Kameraden entschuldigen können.
Den Vorfall längst vergessen, streifte er einen Tag später wieder durch Moskau. Leider begegnete er dem Franzosen, der ihn sofort wieder erkannte. Das wäre alles kein Problem für ihn gewesen, wenn dieser, wie beim letzten Mal, allein gewesen wäre. Leider hatte er vier Kameraden dabei und alle fünf hatten dem Alkohol ordentlich zugesprochen. Wo sie den auch immer gefunden haben mochten. Sollten sie von einem ihrer Vorgesetzten betrunken angetroffen werden, würde das eine Strafe nach sich ziehen. Aber das schien die fünf nicht zu stören.
"Dich kenne ich doch", sagte der Franzose in seiner Muttersprache.
Er hatte keine Probleme ihn zu verstehen. Sie waren lange genug von Frankreich besetzt, dass die Sprache wie eine zweite Haut auf ihn übergegangen war. Er war damit aufgewachsen, hatte es in der Schule lernen müssen.
Der betrunkene Franzose ließ nicht locker, obwohl er so tat, als würde er ihn nicht kennen und achtlos an ihm vorüberging.
"Verdammt! Jetzt bleib endlich stehen! Du bist doch der, dem ich es zu verdanken habe, dass ich nicht zum Zuge gekommen bin. Hattest es wohl selbst auf die kleine Hure abgesehen und wolltest nicht teilen. Na, warte Bürschchen, dir werde ich schon zeigen, was du davon hast."
Er nahm die Worte nur noch verschwommen wahr, in seinen Ohren begann es zu rauschen. Was nun kommen würde, konnte er sich denken. Der Franzose und seine versoffenen Kumpane würden versuchen, ihn zu verprügeln. Dazu mussten sie ihn allerdings erst einmal erwischen.
Ohne darüber nachzudenken, was er tat und wohin er laufen sollte, begann er zu rennen. Die Franzosen fluchten laut und er hörte schwere Schritte hinter sich. Sie hatten die Verfolgung aufgenommen. Er bog um die nächste Ecke, lief die Straße hinunter, um dann rechts abzubiegen. Noch immer hörte er die Franzosen hinter sich, wie sie ihm Schmähworte zuriefen und ihm drohten. Davon ließ er sich nicht beirren, sondern rannte weiter, bog immer bei der nächsten Möglichkeit ab. Irgendwann musste er sie doch abgehängt haben. Schließlich kam er in ein Gebiet der Stadt, wo er noch nicht gewesen war und sich nicht auskannte. Er bog auf eine Straße ein, lief ein paar Meter, bevor er stoppte und seinen Fehler erkannte. Er war in einer Sackgasse gelandet. Gerade als er sich umdrehte, sah er seine Verfolger. Natürlich hatte er sie nicht abhängen können. Es wäre zu schön gewesen, wenn es ihm gelungen wäre. Verzweifelt sah er sich nach einer Möglichkeit um, wo er sich verstecken konnte. Aber es war zu spät, sie hatten ihn entdeckt. Lachend näherten sie sich ihm, während er langsam rückwärts ging. Irgendwann würde er die Mauer im Rücken haben, dann hätten sie ihn. Natürlich konnte er versuchen, gegen sie zu kämpfen. Aber fünf gegen einen war nahezu unmöglich. Sie würden ihn windelweich prügeln. Wenn er Glück hatte, waren seine Knochen am Ende nicht alle gebrochen. Warum hatte er nur nicht besser aufgepasst und war einfach zurück ins Lager gelaufen? Dort hätten sie ihm nichts antun können. Er hätte zu seinem Bruder laufen sollen. Der hätte gewusst, was zu tun war, um diesen Abschaum von sich fernzuhalten. Stattdessen war er immer tiefer in die Stadt hineingelaufen und war schließlich in dieser Sackgasse gelandet. Er hatte es nicht besser verdient. Nur hier sein Leben aushauchen? Er hatte nicht In Schlachten gekämpft, diesen elenden Marsch überlebt, eine verheerende Schlacht mit vielen tausend Toten geschlagen, um letztendlich in einem Kampf zwischen Kameraden zu sterben. So hatte er sich seinen Tod nicht vorgestellt.
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