Es hatte sich gebessert bis er seinen Sohn getötet hatte. Seitdem war er nur noch ein Schatten seiner selbst, verfiel zusehends.
Die stärksten unter seinen Wachen hatte er ausgesucht, damit diese Kisten transportiert werden konnte. Was hatte er sich geehrt gefühlt, sich unter Grosnys Auserwählten zu befinden. Inzwischen fragte er sich, ob es tatsächlich eine Ehre gewesen war, diesen Auftrag auszuführen.
"Mein Kopf", hörte er Nikolai stöhnen. "Das war doch nur ein halber Becher, davon kann es mir nicht so schlecht gehen."
Es schien, er wolle noch mehr sagen, doch die Schmerzen überwältigten ihn. Sein Kopf tat höllisch weh und das Atmen fiel ihm schwer.
So langsam wurden die Erinnerungen klarer. Sie hatten die Kisten an diesen unwirklichen Ort getragen. Unheimlich hatte das alles gewirkt, doch man hatte nichts gesagt. Zum Dank für ihre Dienste und um sich von den Strapazen zu erholen, hatte man ihnen etwas zu trinken angeboten. Wann bekam man schon Wein angeboten, noch dazu vom Herrscher persönlich? Das Angebot hatten sie alle nicht abschlagen können. Wie es aussah, war es ein Fehler gewesen. In dem Wein musste irgendetwas gewesen sein, dass sie bewusstlos hatte werden lassen. Deshalb hatte er diesen schrecklichen Alptraum gehabt, er würde jämmerlich im Sumpf versinken. Aber wieso hatte man ihnen einen Schlaftrunk gereicht? Was hatten sie verbrochen? Sie hatten nur diese Kisten geschleppt. Die Kisten...
Was war in den verdammten Kisten? Er rappelte sich auf, konnte in der Dunkelheit, aber nicht viel mehr ausmachen als schwarze Punkte, die vor seinen Augen tanzten. Irgendwo hatten sie doch eine Laterne gehabt, wenn er die finden und anmachen könnte.
Tastend stolperte er durch die Dunkelheit. Immer wieder drang Nikolais Stöhnen an sein Ohr. Offensichtlich ging es ihm wieder schlechter. Was war bloß in dem Wein gewesen?
Mit dem Fuß stieß er gegen etwas Weiches. Langsam bückte er sich und ertastete Stoff. Mit einer bösen Vorahnung fuhren seine Finger weiter über den Stoff, glitten über einen Gürtel mit Metallschlaufe. Hoffentlich war es nicht das, was er vermutete. Nun spürte er kalte Haut unter den Fingern, so kalt, dass er sich schütteln musste. Das war ein Hals, dann folgte das Gesicht. Ein Bart, Mund, Nase, Augen, Haare.
"Nein!", schrie er verzweifelt auf. Wieder berührte er das Gesicht und obwohl er wusste, dass Konstantin tot war, konnte und wollte er es nicht glauben.
Ein Gurgeln riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Nikolai.
"Sterbe...", hörte er ihn sagen. "Hilf, - Alexe..."
Es kam nichts mehr. Das Röcheln war erstorben. Für ihn bestand kein Zweifel, dass Nikolai genauso tot war wie Konstantin. Da er von Pawel nichts hörte, war dieser wahrscheinlich genauso tot wie die anderen beiden. Nur er war noch am Leben.
Wie lange noch? , ging es ihm durch den Kopf. Jeder Atemzug schmerzte ihn, als hätte er etwas Scharfkantiges verschluckt, das nun in seinen Eingeweiden herumschnitt.
Es musste doch einen Weg aus diesem Raum geben. Sie waren hineingegangen, dann musste man auch hinausgehen können.
Langsam, auf allen Vieren, kroch er über den Boden, stieß immer wieder an die Kisten, die sie transportiert hatten. Schließlich erreichte er eine Wand. Welche es war, konnte er nicht sagen. In der Dunkelheit hatte er jede Orientierung verloren. Vorsichtig tastete er sie ab, ging Meter um Meter vorwärts, doch so sehr er suchte, fand er nicht. Da waren nichts als Steine. Halt, an einer Stelle hatte er nasse Finger bekommen. Drang von oben her Wasser in den Raum. Er stand auf, seine Fingerspitzen ertasteten wieder feuchte Stellen. Aber nicht die ganzen Steine waren feucht, sondern nur vereinzelte Stellen. Mehrmals strich er über eine Stelle bis er sicher war, woran es lag. Das war Putz. Da hatte jemand Steine aufgeschichtet und diese verputzt.
Schweiß brach ihm aus, als er erkannte, was geschehen war. Man hatte ihnen Wein zu trinken gegeben, das mit Gift versetzt gewesen war. Nur bei ihm hatte es nicht richtig gewirkt, sodass er nicht tot war. Anschließend hatte man sie einfach eingemauert. Alles wegen dieser verdammten Kisten! Er konnte es nicht fassen. Diese Kisten bedeuteten seinen Tod.
Angst überkam ihn, dass er jämmerlich verhungern und verdursten, eines qualvollen Todes sterben würde. Seine Kameraden hatten ein besseres Los gezogen als er. Sie waren tot und mussten nicht jämmerlich dahinvegetieren.
Er wollte nicht sterben, wollte leben! Verzweifelt versuchte er die Steine aus der Wand zu drücken. So sehr er sich dagegen stemmte, kein einziger Ziegel bewegte sich von der Stelle. Dafür bemerkte er, wie ihm immer wieder die Augen zufielen und er gegen eine bleierne Müdigkeit ankämpfen musste. Es fiel ihm schwer, weiter Luft zu holen. Als wäre alle Luft in diesem Raum verbraucht und kaum noch etwas da. Die Kopfschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Es pochte so heftig gegen seinen Schädel, als würde jemand mit dem Hammer darauf einschlagen. Er krümmte sich zusammen, wollte sich nicht dem Schmerz ergeben. Noch einmal stemmte er sich gegen die hochgezogene Wand, aber seine Kraft reichte nicht mehr aus. Schwerfällig sackte er zusammen. Sein Körper schrie nach Luft.
Er musste hier raus, war sein letzter Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor und langsam in ein anderes Leben hinüberdämmerte. Hatte sein Traum sich am Ende als Wirklichkeit erwiesen. Nur war er in keinem Sumpf in die Tiefe gezogen worden, sondern in einen Raum eingemauert worden. Es hatte kein Entkommen für ihn gegeben.
Leipzig, März 2013
Er sah sich noch einmal die Signatur auf seinem Notizzettel an, obwohl er sie bereits auswendig konnte. Dort war das Regal. Gleich würde er das Buch in Händen halten. Seine Finger zitterten vor Aufregung, als er mit ihnen die Signaturen durchging. Er stockte. Da war kein Buch mit der entsprechenden Nummer. Hatte er es übersehen? Noch einmal ging er Buch für Buch durch und konnte es nicht finden. Es war nicht da.
Das konnte, das durfte nicht sein. Wo war das Buch nur? War es falsch eingestellt worden? Rasch ging er die anderen Regalreihen durch, wurde auch dort nicht fündig. Wo mochte sich das Buch nur befinden? Durch das Rascheln von Seiten wurde er auf den anderen Besucher aufmerksam, den er nur kurz beim Eintreten registriert hatte. Er fuhr herum und sah auf dessen Tisch verschiedene Bücher liegen. Eines davon war möglicherweise das, was er suchte. Ob er hingehen und fragen sollte? Nein, das konnte er nicht riskieren. Er musste unerkannt bleiben. Aber was konnte er tun?
Nachdem er längere Zeit über das Problem nachgedacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab. Er würde warten müssen bis die Bibliothek schloss. Danach würde er sich das Buch ansehen können. Für ihn bedeutete es kein größeres Problem, nach Ende der Besuchszeiten in den Bibliotheksräumen umherzustreifen. Als Angestellter war es ihm möglich. Nur wie erklärte er den Kollegen, dass er noch weit nach Arbeitsschluss da war? Natürlich könnte er warten bis er für die Nachmittags- und Abendstunden eingeteilt war, aber laut seinem Arbeitsplan war das erst nächste Woche und so lange konnte er nicht warten. Er musste heute noch an dieses Buch kommen, um es aus dem Verkehr zu ziehen, falls es tatsächlich das beinhaltete, was er vermutete.
Es war nicht leicht gewesen, den ganzen Buchbestand seines Vorfahren zu rekonstruieren. Glücklicherweise waren in irgendeiner alten Kiste Rechnungen aufgetaucht, die den Verkauf der Bücher belegten. Danach war es erheblich leichter geworden, sie aufzufinden. Bisher waren sie in zwei Büchern fündig geworden. Leider hatten sie dort nicht gefunden, was sie vermutet hatten, sodass sie die Suche auf die restlichen Bücher ausdehnen mussten. Als Angestellter der Universitätsbibliothek war es Dirk Lesser ein Leichtes, die Kataloge zu durchsuchen. Einige Bestände seines Vorfahren waren tatsächlich hier in der Bibliothek gelandet. Die ersten Exemplare hatten sich allesamt als Nieten erwiesen, doch bei dem jetzigen Buch hoffte er mehr Glück zu haben. Und dann schien es irgendjemand anderes für irgendeine Arbeit zu benutzen. Das konnte einfach nicht sein. So nah stand er vor seinem Ziel und dann so etwas. Dem würde er heute Abend nach Ende der Öffnungszeiten schon einen Riegel vorschieben. Das Buch bliebe so lange in seinem Besitz bis er sicher sein konnte, dass es etwas enthielt, was er suchte. Er würde es in die Restaurationswerkstatt bringen. Dort war es erst einmal sicher vor dem Zugriff von Fremden.
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