Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte die Ägyptologin so geweint. Weder beim Tod ihres Bruder, bei der Scheidung ihrer Eltern noch beim Tod ihres Großvaters.
Die Tränen waren gekommen und wieder versiegt. Doch als Mala Tausendschön gegangen worden war, hatte sie nicht mehr aufhören können. Ihr Herz war gebrochen. Das liebste Wesen auf Erden, das ihr näher stand als jeder Mensch, hatte sie verlassen. Seitdem konnte Isis nachvollziehen, was in ihrem Urgroßonkel Pascal vorgegangen war, wie er sich gefühlt hatte, als Bertha ihn für immer verließ, um in den USA ihr weiteres Leben als Zirkuselefant zu verbringen.
Die Ägyptologin war lange über den Punkt hinaus, wo man trauerte. Die einen brauchten länger für die Verarbeitung als der Durchschnitt. Sie gehörte zu denen, die lange Zeit dafür brauchten.
Das Leben musste weitergehen; mit oder ohne Mala Tausendschön. Karla musste schließlich auch weiter arbeiten, obwohl ihr Schlattenschammes nicht mehr anwesend war. - Welch ein Vergleich!
Moskau, 15. September 1812
Was taten sie hier? Warum waren sie überhaupt hier? Freiwillig war es nicht geschehen. Wer hatte schon Lust auf ein Leben als Soldat? Als kleiner Junge gab es nichts Schöneres als Krieg und einen tapferen Soldaten zu spielen, der alle Bedrängten aus ihrer misslichen Lage befreite und wegen großer Tapferkeit geehrt wurde. Aber wenn man tatsächlich ein Leben als Soldat führte, wurde man schnell eines Besseren belehrt. Die Illusionen, die man noch als Kind gehabt hatte, waren mit einem Atemzug verschwunden.
Es gab nichts Heroisches. Man versuchte den nächsten Tag zu erleben und nicht in irgendeiner Schlacht oder bei einer Streiterei umzukommen. Es gab keine Stadt, die vor Eindringlingen geschützt und verteidigt werden musste. Sie selbst waren die Eindringlinge. Sie töteten und zerstörten. Vor ihnen musste man sich in Acht nehmen, wenn man sein Leben nicht frühzeitig beenden wollte.
Die Zeit war lange vorbei, dass er als kleiner Junge Soldat gespielt hatte. Es kam ihm so vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Wie hatte er es damals nur freiwillig spielen können? Jedem Jungen sollte er verbieten, Soldat zu spielen oder sich zu wünschen, es einmal werden zu wollen, wenn er groß war. Sie alle wussten nicht wie entbehrungsreich das Leben ist, wenn man lebendes Futter für den Feind war. Sie wussten nichts davon, wie man stank, weil man tagelang in seinen Kleidern ausharren musste und vor Dreck starrte, bevor man sich endlich wieder einmal waschen konnte. Genauso wenig ahnten sie, wie man hungerte, fror und die anderen verfluchte. Nie war man allein, immer war jemand um einen. Einen Namen hatte man nicht, nur einen Rang. Man hatte zu gehorchen, Befehle auszuführen, ob man wollte oder nicht. Was war daran heldenhaft? Man versuchte bei einer Schlacht zu überleben, verlor irgendwann das Gefühl der Scham dafür einen Menschen töten zu müssen. Man kämpfte ums nackte Überleben, da konnte man es sich nicht leisten, vorher sein Gewissen zu befragen, ob es recht sei, was man tat. Entweder tötete man oder man war es selbst, der auf dem Feld zurückblieb und ein Ziel der Plünderer und Krähen wurde.
Das alles hatte er nie gewollt und dennoch war er jetzt hier. Nach einem monatelangen Marsch, den Feind immer in Sichtweite, so als trieben sie diesen vor sich her, waren sie endlich dort angekommen, wo dieser Despot hingewollt hatte. Sie hatten die Stadt erreicht, die zu seinem größten Triumph werden sollte. Nur bisher ließ dieser noch auf sich warten. Zum ersten Mal war etwas nicht so eingetreten, wie er es sich erhofft hatte.
Anstatt das der Korse, dessen Muttersprache nicht einmal Französisch war, seine Niederlage eingestand, harrte er hier aus, ließ wertvolle Zeit verstreichen, die sie längst noch tiefer ins Land hätten marschieren können.
Heute Morgen war er unter den Klängen der Marseillaise in der Stadt eingetroffen und hatte mit seiner Leibgarde den Kreml bezogen. Dort wartete er auf eine Botschaft des Zaren - bisher vergeblich.
Er glaubte nicht daran, dass Napoleon noch eine Nachricht geschickt würde. Bereits gestern Abend hätte ein Bote erscheinen müssen, als sie selbst vor den Toren der Stadt gestanden hatten und warteten, dass der Nachzug der russischen Armee endlich aus Moskau verschwand.
Der Korse war gescheitert, er wusste es nur noch nicht.
Dabei hatte er schon wie der Sieger ausgesehen. Nachdem er die russische Armee immer tiefer ins Landesinnere zurückgedrängt hatte, hatten sich die Russen endlich der Schlacht gestellt. Bei Borodino kam es zu den blutigsten Kämpfen, die Napoleon je erlebt hatte. Besonders die deutschen Regimenter hatten hohe Verluste erlitten, vor allem die Kavallerie wurde bis auf einen kleinen Teil völlig vernichtet, sodass überlebende Reitersoldaten eine Kavallerie zu Fuß bilden mussten, weil es zu wenig Pferde gab. Man stelle sich das mal vor! Eine Kavallerie ohne Pferde! Unter diesen Korsen schien alles möglich zu sein.
Obwohl Napoleon klar gesiegt hatte, verkündete der Feldmarschall Kutusow einen russischen Sieg. Der musste sich auch gedacht haben, wer schon nachprüfen würde, was sich wirklich in der Pampa zugetragen habe?
Mit großen Erwartungen waren sie weiter gen Moskau vorgerückt. Aufgrund der Verkündung des Sieges von Borodino hatte man in Moskau keine Vorkehrungen getroffen, um die Stadt zu verlassen. Man fühlte sich sicher.
Doch als Nachricht kam, dass Napoleon sich der Stadt näherte, flohen die ersten Einwohner und brachten sich in Sicherheit. Sie wurden noch als Verräter Feiglinge beschimpft, weil man zu dem Zeitpunkt noch annahm, dass die siegreiche russische Armee Moskau vor dem Antichristen , wie die russisch-orthodoxe Kirche Napoleon bezeichnete, zu verteidigen.
Moskau wurde aufgegeben. Dies geschah so spät, dass am nächsten Tag die französische Vorhut bereits in die Stadt einrücken wollte, während Moskau noch nicht vollständig geräumt war. Nach mehreren Verhandlungen, die Murat nicht persönlich führte, wurde entschieden, dass die französische Vorhut erst zwei Stunden, nachdem die russische Nachhut die Stadt verlassen hatte, in der Stadt einmarschieren würde.
Die russische Nachhut hatte sich noch nicht einmal in Moskau befunden, sondern war erst in die Stadt eingezogen. Am Horizont tauchte bereits die französische Kavallerie auf, was zu weiteren Verhandlungen führte. In der Zeit hatten sich beide Seiten tatenlos gegenüber gestanden.
Er hatte beobachten können, wie es bereits zu dem Zeitpunkt zu vereinzelten Bränden gekommen war. Heute Morgen hatte man diese unter Kontrolle gehabt. Wenn der Kaiser der Franzosen in Moskau einzog, durfte es keine Makel geben.
Gestern Abend hatten sie endlich in Moskau einmarschieren dürfen. Unter all den Soldaten hatten sein Bruder und er sich befunden. Sie kamen aus Sachsen und hatten bei Borodino mehr Glück gehabt als viele ihrer Kameraden. Im Gegensatz zu denen waren sie mit heiler Haut davongekommen und hatten nicht einmal einen Kratzer davongetragen.
Nun waren sie endlich in der Stadt, doch Moskau bot einen jämmerlichen Anblick. Fast wirkte die Stadt wie ausgestorben. Die meisten Einwohner waren geflohen, hatten ein paar Bedienstete zurückgelassen, die auf die Häuser aufpassen sollten. Eine nutzlose Aufgabe, wie er fand. Denn früher oder später würde es zu Plünderungen kommen, obwohl es ihnen verboten war. Seine Kameraden würden schon irgendwelche Gründe finden, um einer Strafe zu entgehen. Und sie hatten eine Möglichkeit gefunden - das Feuer.
Bis jetzt hatte er nicht geglaubt, dass sie tatsächlich friedlich in Moskau einziehen würden. Sie hatten den gegnerischen Truppen direkt ins Gesicht sehen können, so nah waren sie ihnen gewesen. Schmähworte waren gefallen, auf beiden Seiten, aber kein einziger Schuss.
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