Eigentlich war er viel zu jung, um sich überhaupt Gedanken übers Sterben zu machen, aber wer Napoleon als Soldat dienen musste, der machte sich zwangsläufig mit dem Gedanken vertraut, sterben zu müssen.
"Na, jetzt haben wir dich. Du wirst eine Lektion erteilt bekommen, die du nie wieder vergessen wirst", sagte einer der Freunde des Franzosen, der mit ihm eine Rechnung offen hatte.
Starr vor Schreck sah er, wie ein anderer ein Messer aus seiner Hose zog. Nun machte er sich keine Illusionen mehr darüber, was geschehen würde. Er würde hier sterben, wenn nicht ein Wunder geschah.
Im Stillen betete er, während seine Gegner immer näher kamen. Er selbst konnte nicht mehr zurückweichen, die Mauer hinderte ihn daran.
"Pst!", hörte er leise eine Stimme.
Seine Augen wanderten umher, aber er konnte nichts entdecken.
Wieder dieses Geräusch, aber jetzt erkannte er, woher es gekommen war. Links von ihm war eine Luke vor dem Haus angebracht, die ein kleines Stück geöffnet war. Dort hinter verbarg sich jemand, der ihm anscheinend helfen wollte. Ohne weiter darüber nachzudenken, wer sich hinter der Luke verbergen mochte, stürzte er dort hin, öffnete sie und verschwand in dem Loch. Er landete auf festgestampfter Erde, hörte das Grölen der fünf Franzosen leiser werden, als die Luke über ihm geschlossen wurde. Dunkelheit umfing ihn. Er sah nichts als Schwärze.
"Komm mit!", forderte ihn eine energische Stimme auf, die einer Frau gehörte. "Wir müssen weiter, sie werden gleich hier drin sein, dann müssen wir den Gang verschlossen haben."
Er spürte, wie eine warme Hand mit Schwielen an den Fingern nach ihm fasste. Als sie seinen Arm hatte, lief sie los und zog ihn mit sich. Anscheinend kannte sie sich hier unten aus, denn sie hatte keine Laterne dabei und lief dennoch sicher in der Dunkelheit, ohne einmal die Geschwindigkeit zu verringern.
Ein schwacher Lichtschein tauchte am Ende des Tunnels auf, als sie im Gang um eine Ecke gebogen waren. Sie näherten sich dem Licht. Als sie es erreicht hatten, waren sie in einem anderen Raum angekommen. Die Fackel brannte so hell, dass ihm die Augen schmerzten. Mit dem Arm schirmte er den hellen Glanz der Fackel ab. Danach ließ sich das Licht ertragen und seine Augen gewöhnten sich langsam an die Helligkeit.
Staunend sah er zu, wie die Frau, nein, es war ein Mädchen... Das junge Mädchen, das er vor dem Franzosen gerettet hatte. Wie hatte sie ihn gefunden? Woher wusste sie, dass er in Schwierigkeiten war? Wie konnte sie ihn vor seinen Verfolgern retten?
Sie schloss die Tür, die den Gang mit diesem Raum verband. Anschließend wuchtete sie drei schwere Holzfässer vor die Tür. Es schien sie keinerlei Anstrengung zu kosten.
"Hilf mir!", forderte sie ihn auf und deutete auf weitere Fässer in der anderen Ecke des Raumes. "Wir müssen sie alle dicht zusammenstellen, dann können sie die Tür nicht aufbrechen."
Noch während sie ihm erklärte, warum er das tun sollte, machte er sich mit seinem ersten Fass auf den Weg. Wie leicht das bei ihr ausgesehen hatte. Ihm machte schon dieses Probleme, dabei war es gerade mal sein erstes.
"Schneller!", rief sie und er versuchte ihren Befehl zu befolgen. Stolpernd brachte er das Holzfass auf seine richtige Position.
Während sie zügig ihre Arbeit verrichteten, polterte etwas gegen die Tür. Er schreckte auf, doch sie forderte ihn mit stummen Gesten auf, dass er weitermachen sollte.
Er hörte, wie sich jemand gegen die Tür warf, aber die Holzfässer hielten der Wucht der Masse aus. Stumm machten sie mit ihrer Arbeit weiter bis alle Fässer so vor der Tür aufgereiht waren, dass diese nur noch durch eine Axt geöffnet werden konnte.
Komm weiter", sagte das russische Mädchen und zog ihn mit sich. Sie hatte die Fackel aus der Halterung genommen und leuchtete ihnen den Weg.
Es ging wieder durch einen Gang, der genauso lang wie der erste schien. Dieses Mal rannten sie nicht, sondern gingen schnellen Schrittes, sodass er die Möglichkeit hatte, den Gang genauer in Augenschein zu nehmen. Es roch feucht, wie es ihm vorhin schon aufgefallen war. Die Gänge waren aus Feldsteinen gemauert, der Boden nur gestampft. Waren das Kellergänge, die von Häusern als Lagerräume genutzt wurden? Aber wieso waren sie alle miteinander verbunden? War das damals beim Bau beabsichtigt worden? Welchem Zweck es auch immer dienen sollte. Jetzt rettete ihm diese Konstruktion das Leben.
"Hier rauf", sagte das Mädchen und deutete auf die Treppe. Sie war breit, wirkte aber steil. Wie man dort Dinge hinuntertragen sollte, ohne dass man sich verletzte, blieb ihm verborgen.
Langsam folgte er ihr nach oben. Sie kamen in einem kleinen Vorraum an, der düster und schmucklos war. Aber wo es einen Keller gab, musste ein größeres Haus drüberstehen. Wo war er hier? Fragend sah er sich um, konnte aber nichts entdecken, was Rückschlüsse auf die Besitzer schließen ließ.
"Hier sind wir sicher", sagte das Mädchen und führte ihn aus dem Raum in eine große Küche. Töpfe und Teller lagen verstreut herum, dass man den Eindruck gewinnen konnte, hier würde niemand mehr arbeiten. Doch der Herd bullerte und ein Topf stand auf einer Platte. Trotz des ganzen Chaos ging alles seinen gewohnten Gang.
"Wir sind nicht geplündert worden", stellte sie klar, als sie seinen fragenden Blick sah. "Das haben wir gemacht, falls Franzosen bei uns eindringen. Wenn sie sehen, dass bereits alles geplündert wurde, werden sie sicherlich von diesem Haus ablassen. Bisher hat es funktioniert. Nur auf der Straße sollte man sich tagsüber nicht aufhalten."
"Nicht alle sind so wie dieser Kerl", erwiderte er. "Viele besitzen noch ein Gewissen, während die anderen durch die Schlachten bereits abgestumpft sind, dass sie nur noch an ihren eigenen Vorteil denken. Es tut mir leid, dass du es am eigenen Leib erleben musstest."
"Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es war mein Fehler", sagte das Mädchen schnell. "Ich habe um das Risiko gewusst, dem ich mich aussetze, wenn ich tagsüber auf die Straße gehe. Aber ich musste nach einer Bekannten sehen. Sie war krank und niemand konnte sich um sie kümmern. Ich habe losgemusst."
Tränen schimmerten in ihren Augen, doch sie riss sich zusammen, weinte nicht.
"Schon gut, ist nicht schlimm", sagte er beruhigend und zog sie zaghaft an sich.
Im ersten Augenblick verkrampfte sie sich, doch dann entspannte sie sich und ließ ihn gewähren, dass er sie an sich gezogen hatte und ihr über den Rücken strich. Bevor er sich daran gewöhnen konnte, sie in den Armen zu halten, löste sie sich wieder von ihm. Sie wirkte wieder gefasst.
"Ich habe mich nicht bei dir bedankt. Du hast selbstlos gehandelt, obwohl der grobe Kerl viel stärker war als du. Er hätte dir etwas antun können."
"Er mag größer und kräftiger sein, aber er ist dumm. Ich hätte ihn nicht besiegen können, wenn er nicht so sehr von sich überzeugt gewesen wäre."
"Aber er war gefährlich, deshalb habe ich dich weiter beobachtet, nachdem ich dir entwischt war. Ich wusste, dass er sich bei dir rächen würde, wenn sich ihm die Gelegenheit böte."
"Allein hätte er gegen mich nie etwas unternommen, außerdem war er genauso betrunken wie seine widerlichen Kameraden."
"Das hat ihnen die Angst und den Skrupel genommen. Sie hätten dich getötet."
"Ich weiß", sagte er nur und war überrascht, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen, obwohl er eher schockiert als gleichgültig hätte reagieren müssen. "Woher kannst du so gut deutsch?", wollte er wissen.
"Mein Großvater war ein bedeutender Gelehrter und hat sich in St. Petersburg mit seiner Familie angesiedelt. Es gab noch andere deutsche Familien, die alle hauptsächlich in St. Petersburg zu finden sind. Meine Eltern haben ihr Glück hier in Moskau gemacht. Das ist ihr Haus, wo wir sind. Ich bin nicht mit ihnen gegangen, als sie geflüchtet sind, sondern habe mich versteckt. Das ist mein Zuhause und das lasse ich mir von niemandem nehmen."
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