Ihre letzten Worte klangen beinahe trotzig.
"Dann danke ich dir dafür, dass du mich vor den anderen gerettet hast."
"Ich würde es immer wieder tun, selbst wenn es die andere Szene nicht gegeben hätte. Du hast ein gutes Herz, bist nicht wie all die anderen, die sich nur selbst bereichern wollen, die in jedem Fremden einen Feind sehen, die denken, dass sie sich einfach nehmen können, was sie haben wollen. Du hast noch ein Gewissen. Bewahre es dir."
"Ich habe nie in Napoleons Armee dienen wollen, aber sie haben mich geholt, bevor ich mich rechtzeitig aus dem Staub machen konnte. Ich hasse dieses Leben, muss gegen Menschen kämpfen, die mir nichts getan haben, denen ich nichts getan habe und dennoch versuchen wir uns gegenseitig umzubringen. Was ist das für eine Welt, wo ich gegen meine eigenen Freunde kämpfen muss, weil sie in einer anderen Armee dienen? Ich habe das alles nicht gewollt."
"Und dennoch bist du hier", sagte das Mädchen. "Das muss einen höheren Sinn haben."
"Was will Gott mir damit sagen? Dass Napoleon am Ende ist? Der Zar wird nicht kommen und mit ihm verhandeln. Wir stehen auf verlorenem Posten. Doch anstand umzukehren, harrt dieses Ungeheuer aus und sieht nicht ein, dass alles vergebens war. Lange können wir nicht mehr bleiben. Was gibt es hier denn? Nein, er muss endlich einsehen, dass er verloren hat und die Armee zurück muss."
Er hatte sich in Rage geredet, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht war wutverzerrt. Er hatte genug davon ein Spielball des Franzosenkaisers zu sein, dem das Leben seiner Soldaten egal war. Hauptsache seiner Armee ging der Nachschub an jungen Männern nicht aus, dass er weiterhin an seiner Eroberungspolitik festhalten konnte.
Das Mädchen war vor ihm zurückgewichen. Ihr machte sein Gesichtsausdruck Angst, auch wenn diese Wut nicht ihr gegolten hatte. Als er sich dessen gewahr wurde, beruhigte er sich.
"Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Nur wenn ich daran denke, dass ich jemandem dienen muss, der den Ernst der Lage verkennt, werde ich wütend. Napoleon ist nicht bei Sinnen. Er muss doch erkannt haben, dass er hier nichts mehr gewinnen kann. Warum bläst er nicht endlich zum Rückzug?"
"Du verdammst ihn, weil er nicht endlich einsieht, dass er nichts mehr ausrichten kann. Aber denk doch mal nach: Wenn er unverrichteter Dinge aus Russland verschwindet, ohne dass er dem Zaren klar gemacht hat, wer der starke Mann in Europa ist, kann er sich bei seinen Verbündeten nicht mehr sehen lassen. Man wird ihn auslachen. Diese Niederlage wird ihm auf ewig nachhängen."
"Du verteidigst ihn auch noch?"
Er rückte von ihr ab. Wie konnte sie so etwas tun?
"Nein! Nein, das tue ich nicht. Ich versuche dir nur zu erklären, warum du mit der Armee hier noch festhängst und nicht längst auf dem Weg nach Hause bist. Viel Zeit habt ihr nicht mehr. Der Winter rückt näher."
Das wusste er bereits und dennoch erschreckte es ihn aufs Neue, weil er es dieses Mal aus dem Mund von jemand anderem hörte.
"Du weißt es, ich sehe es dir an. Aber du kannst dir nicht einmal vorstellen, was der Winter anrichten wird. Anfangs werden die Wege kaum passierbar sein. Ich sehe schon, wie deine Kameraden ihr Raubgut zurücklassen müssen, weil die Karren sich im Dreck festfahren. Da haben sie sich überall bereichert, wo es ihnen möglich war, und dann können sie sich nicht einmal mit in die Heimat nehmen. Wirklich schade. Zu Fuß wird es ein anstrengender Marsch werden, aber du bist kräftig, damit dürfte es dir keine Probleme bereiten."
Er sah durch ein Fenster und bemerkte, dass es draußen zu dämmern begonnen hatte. Wie spät war es? Er musste zurück ins Lager.
"Ich muss gehen", sagte er und wandte sich zu dem Raum, wo er die Haustür vermutete.
"Warte, ich werde nachsehen, ob die Straße frei ist. Zwar werden sich deine netten Kameraden sicherlich nicht hierher verirrt haben auf der Suche nach dir, aber wir sollten kein Risiko eingehen. Ich habe dich nicht vor ihnen gerettet, damit du nun vor meiner Haustür in ihre Finger gerätst."
Sie machte ihm ein Zeichen, dass er warten solle, durchquerte den Raum bis sie zur Haustür kam, öffnete diese einen Spalt breit und blickte nach draußen. Es war niemand zu sehen. Eine geradezu trügerische Ruhe herrschte. Davon ließ sie sich nicht täuschen und sah die Straße auf und ab, beobachtete jede Ecke aufmerksam, ob sich dahinter nicht jemand verbergen konnte. Als sie überzeugt war, dass niemand sich in der Nähe des Hauses aufhielt oder sich irgendwo versteckte, schloss sie die Tür wieder und holte ihn.
Ohne ein Wort des Abschieds schob sie ihn durch die Tür.
"Können wir uns wiedersehen?", wollte er noch von ihr wissen.
"Ich werde weiter ein Auge auf dich haben", erwiderte sie nur.
Er spürte einen leichten Hauch der Enttäuschung, dass sie so ausweichend geantwortet hatte. Über ihre weitere Gesellschaft würde er sich freuen. Neben seinem Bruder war sie der einzige Mensch in dieser Stadt, mit dem er vernünftig reden konnte.
Langsam ging er die Straße hinunter, sah sich einmal kurz um, damit er sich ihr Haus merkte, und ging zurück ins Lager, wo er von seinem Bruder bereits ungeduldig erwartet wurde.
Moskau, 16. September 1812
In der Stadt wütete das Feuer. Wer es entfacht hatte, wusste niemand. Vielleicht war es einer der verbliebenen Anwohner gewesen, vielleicht einer seiner Kameraden. Als es vorgestern zu brennen begonnen hatte, war es ihnen noch gelungen, die Flammen zu löschen. Doch das Feuer war wieder aufgeflammt und wütete schlimmer als zuvor. Die halbe Innenstadt brannte und er fürchtete, dass Irina etwas zustoßen könnte. Zwar lag ihr Haus in einem Viertel außerhalb des Zentrums, aber ob es von den Flammen verschont würde, stand in den Sternen.
Seine Kameraden ließen sich durch die Flammen nicht stören, sondern gingen munter auf Beutetour. Sie versuchten zu retten, was zu retten war, bevor es ein Raub der Flammen würde. Paradox, sie raubten sich Dinge zusammen, nur damit sie nicht vom Feuer verzehrt wurden. Dabei schien ihnen völlig egal zu sein, welcher Gefahr sie sich aussetzten. Gier konnte den Verstand abschalten.
Er hielt sich im Lager bei seinem Bruder auf. Sie beide gingen nicht auf Beutetour, sondern wollten in sicherer Entfernung abwarten, was geschehen würde. Napoleon wartete auf einen Kurier des Zaren, der ihm Verhandlungen anbieten würde. Bisher war nichts geschehen und während dieses Flammeninfernos, das in der Stadt wütete, würde auch kein berittener Bote kommen. Sie würden abwarten müssen bis die Flammen gelöscht waren oder von selbst erloschen. Das konnte dauern. Die dicht bebauten Straßen Moskaus boten dem Feuer eine ausgezeichnete Nahrung. Immer weiter fraßen sich die Flammen durch die Viertel. Von vielen Häusern standen nur noch verkohlte Gerippe.
Die Rauchwolke, die über Moskau hing, war kilometerweit zu sehen. Selbst hier im Lager bereitete ihnen der Rauch Beschweren, ließ sie husten und jeder Atemzug schmerzte.
Je länger das Feuer andauerte, desto unruhiger wurde er. Er hatte keinen Befehl im Lager ausharren zu müssen bis der Brand gelöscht war oder die Flammen sich von selbst erstickten, aber er zog die Sicherheit der Zelte vor. Sein Bruder war bei ihm. Für den kam es überhaupt nicht in Frage, auch nur einen Fuß aus dem Lager zu setzen, solange es nicht sicher war in der Stadt umherzugehen und man nicht Gefahr lief, von den Flammen eingeschlossen zu werden. Doch ihn hielt hier nichts mehr. Er wollte wissen, was mit Irina war, ob sie sicher war.
Es war seltsam, er kannte sie kaum und wusste dennoch alles über sie. Sie war ihm wichtig. So wie ihm seine Mutter und sein Bruder etwas bedeuten, so bedeutete auch sie etwas für ihn. Er konnte nicht benennen was es sein mochte, aber dieses Gefühl hatte er noch nie gehabt. Irina brauchte keinen Schutz, dennoch wollte er zu ihr, bei ihr sein, ihr Gesicht sehen, ihre Stimme hören.
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