Wo war sein Vater abgeblieben? Hatte er sich versteckt? War er bereits so weit vorausgelaufen, dass er ihn nicht mehr sehen konnte? Befand er sich hinter dem Licht, das sich vor ihm auftat, als würde er auf die Sonne zulaufen?
Das Licht zog ihn magisch an. Seine Beine fühlten sich so leicht an, als würde er kaum den Boden berühren. Als würde er schweben.
Nur noch wenige Schritte war er von diesem seltsamen Licht entfernt. Da war auch sein Vater. Er stand davor und winkte ihn zu sich. Jetzt lief er nicht mehr weg.
"Vater!", hörte er sich sagen und fasste nach dessen Hand.
Gemeinsam schritten sie auf das Licht zu und schritten hindurch.
Der Körper des Soldaten fiel zur Seite. Er lag auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln.
Noch einmal ging ein Ruck durch ihn, dann setzte der Atem aus. Der junge Soldat in Napoleons Diensten war tot, erstickt an dem Rauch, den das Feuer mit sich gebracht hatte.
Die Flammen waren nicht weit gekommen, hatten nur am Eingang des Lazaretts gewütet. Die tödlichen Dämpfe hatten sich in dem Saal ausgebreitet und jedes Leben erstickt. Wer einen Blick hier reinwerfen würde, käme es so vor, als würden die Kranken und Verletzten nur schlafen. Nur wer genauer hinsah, dem würde auffallen, dass es sich um den ewigen Schlaf handelte.
Moskau, 18. September 1812
Eine riesige Rauchwolke hing über der Stadt, der Gestank von verbranntem Holz hing in der Luft und in der Kleidung der Überlebenden. Jeder Atemzug tat weh, löste einen rauen Husten aus.
Doch nicht nur Rauch und Flammen sorgten für eine gespenstische Szene, sondern auch das Schreien der vergewaltigten Frauen, die den Soldaten der Grande Armée in die Hände gefallen waren. Es herrschte ein Inferno ungeahnten Ausmaßes, als wäre die Hölle auf Erden erschienen.
Seit mehr als drei Tagen brannte Moskau ununterbrochen. Anfangs hatten sie noch versucht, die einzelnen Brandherde zu löschen. Mit primitiven Hilfsmitteln hatten sie versucht, die Flammen zu löschen. Sämtliche Feuerspritzen waren von den Russen zerstört worden, sodass man nur mit Decken oder Eimern voll Wasser löschen konnte. Es war ein aussichtsloser Kampf, den sie führten. War ein Feuer im Keim erstickt worden, brach an anderer Stelle ein neues aus. Resigniert hatten sie schließlich aufgeben müssen und den Flammen ihren Weg gelassen. Wer wusste schon, wozu dieser Brand noch gut sein würde?
Als das Feuer sich unaufhaltsam ausbreitete, den Aufenthalt in der Stadt unerträglich und lebensgefährlich machte, hatten viele Soldaten der Grande Armée fluchtartig die Stadt verlassen. Einzig Napoleon schien die Lage zu verkennen und wollte in der Stadt ausharren. Wahrscheinlich hoffte er immer noch, dass der Zar höchstpersönlich kommen und ihm auf Knien ein Friedensangebot machen würde. Allerdings gab es keinen Zweifel daran, dass er niemals käme solange der französische Kaiser sich noch in Russland aufhielt. Zar Alexander I. würde nicht kommen. Nicht heute, nicht morgen oder an irgendeinem anderen Tag.
Napoleons engste Vertraute hatten ihn schließlich überzeugen können, den Palast zu verlassen, da in der Nähe der Kreml-Mauern ein Stadtviertel in Flammen stand. Der Kaiser der Franzosen entfernte sich nicht weit, zog einfach in einen anderen standesgemäßen Palast um.
Die zweite Demütigung, die Napoléon innerhalb weniger Tage erleben musste.
Mit großen Erwartungen war die Armee in Moskau eingefallen und fand die Stadt leer vor. Bis auf wenige Bedienstete und diejenigen, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten zu fliehen, war niemand mehr in der Stadt.
Der Zar war feige geflohen. Und Moskau brannte. Welch ein Empfang!
Wo war sein Bruder? Gestern um die Mittagsstunde hatte er Thomas das letzte Mal gesehen. Angeblich habe er sich erkundigen wollen, was es zu essen geben würde. Doch er war dort nie angekommen, wie er in Erfahrung hatte bringen können. War er auf dem Weg dorthin verschwunden? Hatte Thomas ihn angelogen, hatte er ganz woanders hingewollt und hatte dies nur als Vorwand benutzt? Himmel! Hatte er sich etwa ins brennende Moskau aufgemacht? Was wollte er dort? Zum Plündern hatte er sich bestimmt nicht aufgemacht.
Napoleon mochte das Plündern verboten haben, doch seitdem die Stadt brannte, hielt sich niemand mehr an das Verbot. Man müsse soviel wie möglich vor den Flammen retten, hieß es.
Die Ungewissheit nagte an Heinrich Kalditz. Letzte Nacht hatte er einen fürchterlichen Traum gehabt. Sein Bruder war in einem Erdloch gefangen und konnte sich nicht befreien. Auf einmal stürzte die eine Wand ein und begrub Thomas' Oberkörper unter sich.
An dieser Stelle war Heinrich Kalditz aus dem Schlaf hochgeschreckt. Seitdem fürchtete er, seinem Bruder könne etwas Schlimmes widerfahren sein.
In seinem tiefsten Inneren wusste er, dass irgendetwas passiert war. Doch er hoffte, dass er sich täusche und Thomas es gelungen war, sich vor dem Feuer in Sicherheit zu bringen. Vielleicht hielt er sich in einem der Viertel auf, die bisher vor den Flammen verschont geblieben waren und harrte dort aus.
Was hatte er gestern losgehen müssen? Die Feuer waren nicht unter Kontrolle, was die anderen Soldaten nicht zu stören schien. Sie fürchteten in ihrer Gier nur die Kameraden, die ihnen wertvolle Güter streitig machen konnten. Das Feuer war für sie die willkommene Ausrede gewesen, um endlich mit den Plünderungen beginnen zu können. Dabei war es nicht geblieben. Wie überall wurden die Frauen geschändet. Hatten die Kerle nichts anderes im Kopf? Wieso gingen sie dafür nicht zu einer der Huren, die den Tross begleiteten? Wer länger in der Armee war, verrohte. Es wurde ihm immer wieder vor Augen geführt.
Stürme am gestrigen Tag hatten die Brände angefacht, dass sie vollends außer Kontrolle gerieten. Irgendwo in dieser Hölle befand sich Thomas und er war dazu verdammt, im Lager auszuharren und warten zu müssen bis der Großteil der Flammen endlich erlosch.
Verzweiflung machte sich in Heinrich Kalditz breit. Je länger die Stadt brannte, desto weniger Hoffnung hatte er, seinen Bruder noch lebend zu finden.
Die Feuer fanden nach und nach keine neue Nahrung mehr bis eines nach dem anderen verlöschte. Am 18. September ließ sich Moskau wieder gefahrlos betreten. Ein leichter Regen ging über der Stadt nieder und erstickte die allerletzten Flammen.
Soldaten liefen durch die Stadt, weiter auf der Suche nach wertvollen Gegenständen, die sie mit nach Hause nehmen könnten. Vieles hatten die russischen Soldaten bereits vor Einzug der Grande Armée geplündert, wozu sie von den Moskauer Kaufleuten aufgefordert worden waren. Einige hatten sich so lange Zeit gelassen, dass sie sich noch in der Stadt befunden hatten, als die Franzosen in die Stadt einmarschierten. Im Gegensatz zu den Verletzten hatten sie es geschafft, die Stadt zu verlassen.
Der Geruch von verbranntem Holz hing in der Luft. Die Augen brannten.
Auf der Suche wertvollen Schätzen verirrten sich einige französische Soldaten ins Krankenlager der Russen und in das ihrer Kameraden. Was sie dort erblickten, würden sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen.
Der Anblick von Toten nach einer Schlacht war schon furchtbar, doch was sie hier sahen, übertraf alles: Keiner ihrer Kameraden hatte das Inferno überlebt. Hatte das Feuer sie nicht entstellt, lagen sie mit in Todesangst erstarrten Gesichtern auf ihren Lagern, neben den Betten oder zusammen gekrümmt auf dem Boden. Die Toten auf dem Boden hatten blutige Nägel, blutige Finger. Sie mussten sich in ihrer Todesangst über den Boden geschleift haben, um den tödlichen Flammen zu entkommen.
Niemand hatte versucht, die Kranken zu retten. Es war sogar darauf angelegt worden, dass sie jämmerlich umkamen. Irgendjemand hatte das Lazarett verschlossen!
Читать дальше