Heinrich Kalditz, der immer noch auf der Suche nach seinem Bruder war, hatte es ebenfalls hierher verschlagen. Er glaubte nicht, dass er Thomas hier finden würde. Umso erschütterter war er, als er ein bekanntes Gesicht erblickte. Er stürzte auf den Leichnam zu, barg den Kopf in seinen Händen und wiegte ihn wie ein kleines Kind.
"Thomas!", rief er und schüttelte seinen toten Bruder.
"Il est mort, mon ami", sagte jemand anderes und legte dem, unter all den Toten, trauernden Soldaten mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Er war nicht der erste, der einen Freund verloren hatte und würde nicht der letzte sein. Dennoch ging es jedem noch so abgebrühten und abgestumpften Soldaten bis ins Herz, wenn ihre Kameraden einen Freund unter den vielen Toten erblickten.
"Non!", schrie der Angesprochene und schüttelte die Hand ab.
Der französische Soldat zuckte hilflos mit den Schultern und wandte sich ab. Hier gab es nichts mehr zu tun.
Dem trauernden Soldaten stiegen Tränen in die Augen, dass er das bleiche Gesicht seines Bruders und Kameraden nur noch verschwommen sah. Er hielt den Toten in den Armen und wiegte ihn wie ein kleines Kind.
"Was hast du hier nur zu suchen gehabt? Du warst doch gar nicht verletzt. Was soll ich denn unserer Mutter sagen? Ich sollte doch auf dich aufpassen!"
Tränen quollen aus den Augen des Soldaten. Er barg seinen Kopf an Thomas' Schulter und weinte lautlos.
Gegen ihren Willen waren sie in Napoleons Armee eingezogen worden. Thomas, sein jüngerer Bruder, hatte anfangs noch begeistert mitgemacht und sich unter all den Soldaten wie ein Großer gefühlt. Endlich war er nicht mehr nur der kleine Bruder, der von der Mutter verhätschelt und verzärtelt wurde. Endlich durfte er ein Mann sein. Nach und nach hatte Thomas erkannt, dass sie als besiegte und verbündete Untertanen eines Königreiches in der Rangfolge ganz unten standen. Den französischen Soldaten wurden erhebliche Privilegien gestattet, während sie selbst froh sein konnten, überhaupt einen vernünftigen Schlafplatz zu bekommen. Sie zählten einfach nicht, waren nur da, um die Armee zu verstärken und zu siegen. Denn ein Napoléon verlor nicht, ein Napoleon gewann!
Irgendwann hatten sie erkannt, dass dem Korsen Menschenleben völlig egal waren, solange er genug Nachschub an Soldaten hatte. Und je mehr Gebiete er eroberte, desto mehr junge Männer standen ihm zur Verfügung, die er einfach in die Schlacht schicken und verheizen konnte.
Nur mit großem Glück hatten sie die letzten beiden Jahre überstanden. Doch nun hatte es seinen Bruder getroffen. Thomas war tot!
"Was hast du hier gewollt, Thomas?", fragte Heinrich Kalditz schluchzend. "Du warst kerngesund, hast nicht einmal einen Kratzer gehabt. Was also solltest du hier?"
Der Soldat hatte mit immer lauterer Stimme gesprochen bis er die letzten Worte geschrien hatte.
Thomas gab keine Antwort. Sah seinen Bruder nur mit leblosen Augen an.
"Gräm dich nicht, Heinrich", glaubte der trauernde Soldat aus Thomas' Mund zu hören.
Heinrich schüttelte sich und starrte auf den Leichnam seines Bruders.
Er wurde verrückt! Ein Toter konnte nicht mehr sprechen. Diese Fähigkeit hatte er mit seinem letzten Atemzug verloren.
Verwirrt und höchst verunsichert schloss er seinem Bruder die Augen. Als er ihm die Hände vor der Brust falten wollte, bemerkte er, dass Thomas etwas in der Innenseite seiner Uniform hatte.
Hastig öffnete Heinrich die Jacke und fand ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
Ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, verstaute er es in seiner Uniform. Später würde er sich darum kümmern. Vielleicht würde es erklären, warum sein Bruder sich trotz des Feuers in die Stadt aufgemacht hatte.
Von draußen drang das Geschrei seiner Kameraden und Leidensgenossen, die sich schnell wieder erholt hatten und wieder plündernd durch die Stadt liefen. Die letzten kostbaren Dinge mussten gerettet werden.
Heinrich stand auf und warf sich seinen Bruder über die Schulter. Er würde dafür sorgen, dass Thomas angemessen beerdigt wurde. Und dann würde er sich diesem verdammten Blatt Papier widmen.
Leipzig, April 2013
Es roch muffig, nach altem gegerbtem Leder. Die Bibliotheksführung war so abgelaufen, wie Karla es sich vorgestellt hatte: Langweilig und öde.
Der Bestand der alten Bücher war ihr erklärt worden. Pflichtschuldigst hatte Karla sich Notizen gemacht, obwohl sie ihr digitales Diktiergerät ebenfalls mitlaufen ließ. Das Notizen machen sah allerdings professioneller aus, als wäre sie interessiert, was sie in Wirklichkeit nicht war.
Nur mühsam konnte sie ein Gähnen unterdrücken. Dieser Auftrag wäre ideal für dieses Arschloch Arne gewesen. Er war ganz vernarrt in alte Bücher, beinahe so schlimm wie Isis. Die mochte solche Speckschwarten bald lieber als alle heutigen Fachbücher zusammen. Dabei konnte man die nicht einmal lesen, weil die in Frakturschrift verfasst waren. Allerdings war das noch ein wenig lesbarer als Dokumente, die in Sütterlin verfasst waren. Da musste sie gänzlich kapitulieren.
"Ja, das war's. Falls Sie noch Fragen haben, können Sie mir die jetzt gerne stellen."
Fragen! Herrje, dazu hätte sie dem Vortrag des geduldigen Herrn folgen müssen. Was sich aus den Fingern saugen? Wenn sie keine Fragen stellte, würde sich das negativ auf ihre weitere Zusammenarbeit auswirken.
Schnell überflog sie ihre Notizen, die kaum lesbar waren, um nicht etwas zu fragen, was der Bibliothekar ihr bereits erzählt hatte. Wenn sie bloß nicht so eine Sauklaue hätte.
"Wie viel Prozent des Bestandes sind im Augenblick gefährdet und müssen restauriert werden?", wollte Karla wissen.
Falls ihr das bereits gesagt worden war, würde sie nun wie der letzte Trottel dastehen.
"Der Anteil der hochgradig gefährdeten Bücher liegt bei etwa zwei Prozent. Die befinden sich nicht mehr hier in der Sammlung, sondern werden speziell eingelagert, um sie schnellstmöglich zu bearbeiten. Etwa 35 Prozent stehen unter Beobachtung. Am schlimmsten wütet der Tintenfraß, wie ich Ihnen bereits erläutert habe. Mit diesem Problem haben wir nicht allein zu kämpfen, sondern davon sind alle Bibliotheken verbunden, die einen alten Bücherbestand besitzen. Mit der Luftfeuchtigkeit müssen wir ebenfalls aufpassen, weil die Bücher früher einfach in einem Regal in irgendeinem Raum gelagert wurden. Man achtete damals nicht darauf, ob der Raum im Sommer nicht zu warm und im Winter nicht eiskalt war. Heute weiß man das, aber früher..."
Karlas Interviewpartner schlug die Hände zusammen und schielte unauffällig auf seine Uhr. Karla entging dieser Blick nicht.
"Falls Sie sonst noch Fragen haben?" Karla verneinte. Wenn der werte Herr es eilig hatte, würde sie ihn gewiss nicht aufhalten. "Gut, dann bringe ich Sie in unsere Restaurationswerkstatt. Wir haben gerade ein paar besonders schwere Fälle in Behandlung."
Als ob es Patienten wären und nicht Bücher , ging es Karla durch den Kopf und machte sich eine Notiz. Diese Bemerkung ließe sie in ihrem Artikel verwenden.
Die Anforderungen an den Artikel hatte Karla beinahe beisammen. Nur der Punkt für die Restaurierungsarbeiten musste noch bearbeiten werden.
Das war vielleicht der spannendste Teil an der ganzen Vor-Ort-Recherche. Bis jetzt hatte sie nur alte verstaubte Schinken zu Gesicht bekommen, die vor sich hinmoderten. Das war nicht wirklich interessant gewesen, aber da hatte sie durchmüssen. Während ihres Studiums hatte sie auch Kurse belegen müssen, die ihr nicht gefallen hatten. Man wurde nicht nach seinen Vorlieben gefragt, sondern musste Leistung bringen.
"Hinein in die gute Stube."
Karla empfing ein seltsamer Geruch, als sie den Raum betrat. Was ihr da in die Nase stieg, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Nach Kleber roch es jedenfalls nicht, wie sie im ersten Augenblick gedacht hatte.
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