Resigniert packte Karla Tablet und Diktiergerät in ihre Tasche. Zu Hause erwartete sie ein voll funktionstüchtiger PC samt geeigneter Tastatur. Zwar streikte diese ab und an, weil ihr mal Cola über die Tasten gelaufen war, größere Probleme machte das nicht, höchstens wenn sie sich einem Computerspiel widmete. Da war es äußerst ärgerlich, wenn die Tastatur gerade dann streikte, während man sich gegen einen oder mehrere Gegner erwehren musste.
Ihr Blick fiel auf den Notizblock mit dem verhängnisvollen Inhalt. Die Fingerspitzen der angehenden Wissenschaftsjournalistin fingen zu kribbeln an, dass Karla sie über den Stoff ihrer Hose fahren ließ. Es gab ein unangenehmes Geräusch, wodurch sie sich innerlich schütteln musste.
Welcher Teufel sie geritten hatte, diese vergilbten Zettel an sich zu nehmen, konnte sie immer noch nicht erklären. Nicht einmal das Buch hätte sie anfassen sollen, aber die Finger nicht davon lassen können. Als hätte es sich um eine Tafel Schokolade gehandelt. Die konnte sie auch nicht unangetastet liegen lassen. Nun steckte Karla in der Klemme. Was sollte sie mit den Seiten bloß anfangen? Und was stand dort überhaupt drauf?
Vorsichtig zog die angehende Wissenschaftsjournalistin den Notizblock aus ihrer Tasche. Bevor sie ihn aufschlug, ließ sie ihren Blick unauffällig durch das Großraumabteil wandern. Der Waggon hatte sich trotz eines zwischenzeitlichen Halts nicht weiter gefüllt und blieb schwach besetzt. Ein älteres Ehepaar und zwei einzeln reisende Geschäftsleute befanden sich mit ihr im Abteil, so weit sie es sehen konnte. Klaras Blick blieb länger als nötig auf einem der Anzugsträger haften. Es war kein Interesse das sie länger verweilen ließ. Der junge Mann mochte so alt wie sie selbst sein, vielleicht zwei oder drei Jahre älter. Er hatte dunkle kurze Haare, die er mithilfe von Gel in Form gebracht hatte. Möglicherweise hatte er auch Nivea-Creme oder ähnliches benutzt. Das war egal.
Karla hingegen fand die Frisur affig. In der Schule konnten Jungen so was machen, auch noch im Studium, aber spätestens, wenn sie im Berufsleben standen, sollten sie auf Haargel verzichten. Nicht einmal Arne Kramm hatte es benutzt und der war ein Blödmann erster Güte.
Der junge Geschäftsmann war in ein Wirtschaftsmagazin vertieft, dessen Titel Karla nicht entziffern konnte. Je länger sie in beobachtete, desto überzeugter war sie, dass er nicht in der Zeitschrift las. Was war ihr aufgefallen und merkwürdig an ihm vorgekommen? Sie konnte es nicht benennen, aber ihr Gefühl trog sie selten.
Als hätte der junge Geschäftsmann den Blick der angehenden Wissenschaftsjournalistin auf sich gespürt, sah er auf und blickte sie an. Seine Miene war undurchdringlich und hatte etwas Forderndes. Karla war es unangenehm und sie senkte den Blick.
Irgendwie wirkte er mit seinem Blick verdächtig. Ob es wirklich stimmte, dass er sie beobachtete? Wahrscheinlich redete sie sich das nur ein, weil sie etwas Unerlaubtes getan hatte und überall Gespenster sah. Jeder andere Fahrgast hätte genauso gut negativ auffallen können, weil er irgendetwas getan hätte, was ihr aufgefallen wäre, weil es nicht zu ihm passte.
Dennoch war Karla verunsichert. Sie steckte das Notizbuch wieder zurück in die Tasche, legte sich den Riemen über die Schulter, erhob sich und ging zur Toilette.
Sorgfältig verriegelte sie die Tür, nahm das Notizbuch aus der Tasche und holte die vergilbten Blätter hervor. Sie waren dünn und raschelten, als Karla sie durchblätterte. Viel konnte sie nicht entziffern, aber mehrere Datumsangaben stachen ihr ins Auge.
"Oktober 1812", las sie und wunderte sich darüber.
Was machten zweihundert Jahre alte Seiten in einem Buch, das mehr als doppelt so alt war? Verstehen musste sie das nicht, auch wenn der Grund sie durchaus interessiert hätte.
Die angehende Wissenschaftsjournalistin schreckte zusammen, als Stimmen an ihr Ohr drangen. Auf dem Flur war jemand!
Hastig packte sie die Blätter zusammen, legte sie zurück zwischen die Seiten ihres Notizbuches. Schnell betätigte sie die Spülung und wusch sich die Hände. Der Gang war frei, als sie die Toilette verließ. Dabei hatte sie gehört, wie jemand aufgefordert worden war, den Weg frei zumachen. Jetzt war niemand da. Karlas Blick ging durch die Glastür in ihr Abteil, wo der junge Geschäftsmann seine Zeitschrift wieder aufnahm. War er hinter ihr hergeschlichen? Hatte ihr Gefühl sie nicht getrogen und er beobachtete sie?
Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
Jetzt nur nicht in Panik geraten , ermahnte sie sich.
Langsam atmete sie ein und aus, konzentrierte sich ganz auf ihre Atmung bis sie sich beruhigt hatte und wieder klar denken konnte.
Sie musste etwas unternehmen! Wenn dieser Typ sie tatsächlich verfolgte, würde er garantiert versuchen, ihr die vergilbten Seiten abzunehmen. Nach Hause konnte sie unmöglich allein gehen. Der Weg von der U-Bahn bis zum Haus war lang und lag einsam. Dort ein Taxi zu finden würde bereits schwierig werden.
Am besten holte sie jemand ab, damit sie nicht allein war. Genau, Isis sollte das machen. Die interessierte sich ohnehin für alles, das alt und vergilbt war, wie die Seiten es waren. Karla musste ihre Freundin nur anrufen, um sich mit ihr zu treffen.
Noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass Isis sich nicht in Hamburg, sondern in Berlin befand. Da kam Karla ein Gedanke. Der Zug fuhr über die deutsche Hauptstadt Richtung Hamburg, also konnte sie am Berliner Hauptbahnhof aussteigen und sich mit ihrer Freundin treffen.
Schnell nahm Karla ihr Handy zur Hand und schlug den entgegengesetzten Weg zum nächsten Waggon ein. Schnellen Schrittes durchquerte sie das Großraumabteil bis sie auf dem Gang bei der Toilette zum stehen kam.
Mit klammen Fingern drückte sie die Kurzwahltaste und wartete darauf, dass Isis den Anruf entgegennehmen würde.
Berlin, Hauptbahnhof
Nervös stand Karla am Treppenaufgang zu den S-Bahnen und ließ die Menschen an sich vorbeiziehen. Ihr Blick ging unruhig hin und her, suchte in der Masse nach einem bekannten Gesicht.
Ihre Tasche trug sie unter ihrer Jacke, schützte sie noch mit ihren Armen.
Vor zehn Minuten war sie mit dem ICE angekommen. Der junge Geschäftsmann war bereits eine Station zuvor ausgestiegen. Damit konnte sie ihn von ihrer Liste der Verdächtigen streichen oder doch nicht? Hatte sie sich nicht nur etwas eingebildet? Obwohl sie beruhigt sein müsste, wurde sie das Gefühl nicht los beobachtet zu werden. Wenn sie ehrlich war, stand sie hier mitten auf dem Präsentierteller, konnte von allen Seiten, von oben und unten gesehen werden.
Isis hatte versprochen so schnell wie möglich zu kommen, um sie abzuholen. Allmählich fragte sich Karla, ob ihre Freundin überhaupt wusste, wo sie sich treffen wollten. Die Ägyptologin hatte immer vom Lehrter Stadtbahnhof gesprochen, selbst als Karla sie mehrfach korrigiert hatte. Nun konnte sie nur hoffen, dass ihre Freundin wirklich denselben Ort gemeint hatte wie sie.
Isis war ein wenig merkwürdig, was Dinge betraf, die umbenannt wurden. Bis heute sagte sie zur HSV-Spielstätte Volksparkstadion und nannte nicht den aktuellen Sponsorennamen des Stadions. Vielleicht war es genauso mit dem Lehrter Bahnhof, der nun Hauptbahnhof hieß.
"Setzen Sie sich unauffällig in Bewegung und drehen Sie sich nicht um", flüsterte eine heisere Stimme Karla ins Ohr.
Diese zuckte zusammen und erstarrte. Man hatte sie gefunden! Was sollte sie nur tun? Wie würde Isis an ihrer Stelle reagieren? Um Hilfe schreien? Weglaufen? Gar kämpfen?
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und ließ ihre rasenden Gedanken abrupt zum Stillstand kommen. Unter der Last der Hand schien die angehende Wissenschaftsjournalistin immer mehr in sich zusammenzusinken.
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