"Entschuldige, dass ich so spät bin, aber du kennst die Berliner S-Bahnen, noch unzuverlässiger als bei uns in Hamburg die Kommisbrote. Wobei, wie ich einmal zur Uni wollte, blieb die Bahn mitten auf der Strecke liegen. Das ist mir hier glücklicherweise noch nicht passiert. War natürlich ein Kommisbrot gewesen. So viel zur Zuverlässigkeit der Hamburger S-Bahnen", plapperte eine bekannte Stimme drauflos.
Als Karla nicht reagierte, verstummte die Person, nahm die Hand von der Schulter und schritt die letzten Stufe hinab, um vor Karla zum stehen zu kommen.
"Alles in Ordnung, Karla?", fragte Isis besorgt, als sie in das schreckensbleiche Gesicht ihrer Freundin blickte. "Habe ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht, tut mir leid. Kennst ja meine Angewohnheit, in unpassenden Momenten einen Scherz zu machen."
"Du wirst dich nie ändern", fauchte Karla erbost, die sich schnell von ihrem Schrecken erholt hatte, nachdem sie Isis erkannte. "Tu's nie wieder!"
"Ich verspreche lieber nichts, dann kann ich's nicht brechen."
Für Karla war das Thema beendet. Nervös sah sie sich um.
"Gehen wir?", wollte sie wissen.
In ihr breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Mit einem Mal war ihr dieser Ort zu unsicher. Die vielen Menschen flößten ihr Angst ein, schienen sie zu beobachten, zu wissen, was sie getan hatte.
"Klar, folge mir unauffällig. Wir fahren ein paar Stationen mit der S-Bahn und dann gehen wir ins Museum."
Erleichtert über diese Ansage folgte Karla ihrer Freundin die Stufen zum Bahnsteig hinauf.
Die S5 Richtung Hoppegarten fuhr gerade ein. Isis drängte ihre Freundin zur Eile.
Beide sprangen in die S-Bahn, die kurz nach ihnen die Türen schloss.
Erleichtert lehnte Karla sich in ihrem Sitz zurück. Sie war in Sicherheit. Leider hielt das Gefühl der Erleichterung nicht lange an.
Als die angehende Wissenschaftsjournalistin den Blick durch den Gang schweifen ließ, fiel ihr ein bekanntes Gesicht auf - der junge Geschäftsmann aus dem ICE. Nur trug er jetzt keinen Business-Anzug, sondern legere Kleidung, die ihn beinahe unter den anderen Fahrgästen unsichtbar werden ließ. Er hatte den Anzug gegen eine kamelfarbene Jacke sowie eine Jeans getauscht und anstelle der eleganten Aktentasche trug er nun einen Rucksack über der Schulter. Gelangweilt schien er aus dem Fenster zu blicken, doch Karla war überzeugt, dass er sie beobachtete.
Aufgeregt stieß sie ihrer Freundin in die Seite.
"Hey!", reagierte Isis empört und hielt sich die schmerzende Seite. Normalerweise teilte sie diese Art der Aufmerksamkeit aus und steckte nicht ein.
Ihre Freundin kümmerte sich nicht um diese Belanglosigkeit, ging es doch um etwas weit Wichtigeres. Sie wurden verfolgt! So unwahrscheinlich es war, konnte es gar nicht anders sein.
"Siehst du den Mann dort in der sandfarbenen Jacke? Der hat mit mir im Zug gesessen, allerdings als Geschäftsmann gekleidet."
"Bist du sicher?" Die Ägyptologin musterte den jungen Mann, der kaum älter als sie und ihre Freundin war, unauffällig. Etwas Verdächtiges konnte sie an ihm nicht entdecken. Aber wenn Karla sagte, dass er mit ihr im Zug gesessen hatte, würde es wohl stimmen.
"Der ist eine Station vorm Hauptbahnhof raus."
"Südkreuz", murmelte Isis gedankenverloren.
Es war völlig ausgeschlossen, dass er von dort gekommen war. Sie fuhren gerade in Richtung Südkreuz. Entweder täuschte sich Karla oder der Mann hatte nur so getan, als würde er in Südkreuz den Zug verlassen. Stattdessen könnte er sich in der Behindertentoilette versteckt und sich dort umgezogen haben, um Karla weiter zu beobachten. Möglicherweise hatte er einfach den nächsten Zug genommen, der zum Hauptbahnhof fuhr. Bei der kurzen Strecke würde kein Schaffner durch den Zug gehen und die neu zugestiegenen Fahrgäste kontrollieren.
Isis wandte sich an ihre Freundin: "Was hast du nur angestellt?"
"Nichts, außer das, was ich dir erzählt habe."
"Scheint ausgereicht zu haben", meinte Isis. "Gut, diese Station müssen wir raus. Wir gehen erst los, wenn die letzten raus sind. Also mach dich bereit, aber so unauffällig wie möglich."
Die S-Bahn fuhr in den Bahnhof Friedrichstraße ein und kam zum Halten.
Eine Touristengruppe setzte sich in Bewegung, um den Waggon zu verlassen. Das war die Chance, um unerkannt zu entkommen. Isis gab ihrer Freundin ein Zeichen, sich zu erheben. Schnell schlossen sie sich der Gruppe an und traten aus dem Pulk erst wieder hinaus, als sie den Bahnsteig verlassen und aus Sichtweite des vermeintlichen Verfolgers waren.
Unauffällig sah die Archäologin sich um, während sie das Gebäude verließen und auf die Straße traten. Den jungen Mann hatte sie nirgendwo entdecken können. Das musste allerdings nichts heißen. Er könnte einen Komplizen haben, der ihnen bisher nicht aufgefallen war und sie nun verfolgte. Isis würde die Augen offen halten, mehr konnte sie nicht tun.
Die beiden Freundinnen wandelten einige Meter über die Friedrichsstraße, bevor sie in die Georgenstraße einbogen, die sie zur Museumsinsel führen würde.
"Was willst du eigentlich im Museum?", wollte Karla wissen. Ihr konnte es egal sein, wohin sie gingen. Allerdings fand sie den Ort ein wenig ungewöhnlich.
"Einen Auftrag für Professor Theiding erledigen. Wo Oliver anderweitig beschäftigt ist, muss ich eben springen."
Das klang härter, als es die Ägyptologin beabsichtigt hatte. Wenn sie ehrlich war, störten sie diese Aufgaben nicht. Nur wenn sie manchmal eigentlich etwas anderes zu tun hatte, kamen ihr diese Aufgaben ungelegen.
"Hast du für Professor Winter auch immer gemacht. Der hat dich sogar mehr rumgescheucht als es dein jetziger Herr und Meister tut."
"Komm mir bloß nicht mit dem", sagte Isis energisch. "Der undankbare Kerl hat mich schon wieder angezeigt."
"Was ist es diesmal?"
"Diebstahl von Kultureigentum."
"Mal ehrlich, er sollte sich was Besseres einfallen lassen."
"Ja, du hast recht. Langsam wird es langweilig. Was soll's? Gönnen wir ihm seinen Spaß. Er hat schließlich sonst nichts, worauf er sich in seinem Ruhestand verbeißen kann."
Schweigend überquerten die Freundinnen die Straße und schlängelten sich über einen engen Fußweg.
Auf der Museumsinsel wurde fleißig gebaut, um ein Foyer für alle Museen zu schaffen. Vor über hundert Jahren war dieser Plan entstanden, aber nie ausgeführt worden. Der Erste Weltkrieg hatte dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung gemacht, dann der Zweite Weltkrieg und schließlich die Gründung zweier deutscher Staaten. Erst mit der Wiedervereinigung und der Rückkehr der Ägyptischen Sammlung sollten die einzelnen Gebäude zu einem großen Komplex verschmelzen.
Isis bog auf die Bodestraße ein. Nun ging es durch einen provisorischen Holzverschlag, der als Fußgängerweg diente.
"Ach, guck mal", rief Karla entzückt aus. "Machen schon für die Schöne am Nil Reklame."
"Richtig originell, wie ich finde. Eine Hand, ein Kopf, nur Andeutungen und dennoch weiß jeder sofort, was gemeint ist."
Wie gut diese Werbung funktionierte, hatte man an ihrer Freundin sehen können. Diese wusste vom alten Ägypten kaum etwas, daran hatte ihre Praktikantenstelle nichts geändert, trotzdem hatte sie Nofretete erkannt.
Erstaunt reckte Karla den Hals, als sie eine Menschengruppe in eines der Gebäude sehen sah."
"Haben die eine Sonderführung gebucht? Ich dachte, montags sind alle staatlichen Museen geschlossen."
"Ja, aber nicht das Neue Museum. Nofretete will jeder sehen und zwar an jedem Tag der Woche."
"Als Königin muss man immer Audienz gewähren."
"Du sagst es."
Isis führte Karla durch einen Nebeneingang, der fürs Personal war, ins Museum, wo sie in der ersten Etage den zweiten Saal des rechten Flügels aufsuchten. Nachdem die Ägyptologin die Gesichter zweier Statuen aus allen Blickwinkeln fotografiert hatte, ging sie mit ihrer Freundin ins zweite Stockwerk.
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