„Die Herrschaften erwarten Euch schon. Ihr wisst ja, wo es ist.“
Ich wusste es tatsächlich. Aus dem oberen Kaminzimmer über dem großen Saal und jenseits der Treppe kamen vertraute Stimmen.
„Im Ernst: Was hältst du davon?“, wollte eine Männerstimme wissen.
„Abgesehen davon, dass er das falsche Rosa hat, ist er zu klein“, antwortete eine andere Männerstimme. Gerhard sah mich fragend an.
„Das ist Dixit. Du wirst ihn gleich kennen lernen.“
Die Tür zu einem Raum schwang auf, der mit einfachen, aber guten Hölzern ausgestattet war. Die Schnitzereien darin zeigten vielerlei Fabelwesen. Zwischen ihnen standen ein Mann, eine wunderschöne Frau, und ein Zwerg.
Das Paar war reich gekleidet, der Mann etwas älter, die Frau so, dass ihre Jugend in die mittleren Jahre wechselte.
Gerhards Blick blieb an dem Zwerg haften. Dieser trug schreiend rote Sachen und hielt seinen beiden Gesprächspartnern einen Laib Brot unter die Nase.
„Was ist das?“, fragte Gerhard nur laut in den Raum. Das Vorhandensein jeder Art von Höflichkeit hatte er vorübergehend vergessen.
„Ich glaube, er meint dich, Dixit.“
Der Hofzwerg des Grafen vollführte eine höfische Verbeugung.
„Seid mir willkommen“, meinte Graf Heinrich von Volmarstein mit einem Lächeln.
Er nickte, während ich vortrat und vor der Gräfin niederkniete.
Sie erlaubte mir, ihren Ring zu küssen, und zog mich dabei auf die Füße.
„Was verschafft uns die Ehre Eures Besuchs?“, sang sie mehr, als sie sprach.
„Ihr und das Wissen um Eure Liebe“, antwortete ich und deutete mit der offenen Hand auf Gerhard. „Ein neuer und junger Geist soll sich Ihr in Ritterlichkeit öffnen.“
„Oh, Mann, Junge, jetzt wirst du eine ganze Menge ritterlichen Mist hören.“ Dixit stöhnte und rollte mit den Augen, während er zwischen sämtlichen anderen Anwesenden hin- und herschaute. Seine kleine Gestalt wirkte auf mich wie eine tanzende Flamme.
Gerhard fing auch an, verwirrt von einem Anwesenden zum nächsten zu schauen. Wenigstens blieb er ruhig dabei.
„In gewisser Weise hat Dixit Recht“, meinte ich. „Dies ist keine Lektion in Schwertkampf, sondern eine in ritterlicher Lebensweise. Es geht eben nicht nur darum, wie man ein Schwert benutzt, sondern auch, warum und wofür.“
„Du wirst dich heute oft fragen, warum ich nicht einschreite, junger Mann“, ergänzte Graf Heinrich schief lächelnd durch seinen früh ergrauenden Bart. „Der Grund dafür ist, dass ich weiß, dass Herrn Tobias Liebe zu meiner Frau ehrlich und lauter ist.“
Gerhards Gesichtsausdruck erinnerte immer mehr an einen Karpfen.
„Du wirst es nicht glauben, Junge“, sagte Dixit mit so langsamen Worten, als wolle er einer Schnecke Aristoteles erklären. „Dein Herr ist in die Frau meines Herren und Grafen verliebt. Weil die beiden aber nicht miteinander ins Heu gehen wollen, ist die ganze Sache für meinen Grafen wieder völlig in Ordnung.“
„Ich bin einfach froh, wenn meine Fee glücklich ist“, sagte ich, und zog eine kleine Tonflasche mir Met hervor, in dem Himbeeren eingelegt waren. Ich wusste, dass sie beides mochte. Also überreichte ich sie ihr. Sie nahm sie dankend entgegen.
„Fee?“ Ich hatte mich mittlerweile an Gerhards Art gewöhnt, erst spät und dann nur wenig den Mund aufzumachen.
„Sie heißt so“, erklärte ich. „Gräfin Fee von Volmarstein. Ob sie wirklich eine Fee ist, weiß ich nicht. Dass sie über ihre Herkunft schweigt, spricht dafür.“
Ich erntete ein vieldeutiges Lächeln.
„Dass ich wie eine Frau lebe, spricht dagegen.“
„Jedenfalls bin ich ihr in hoher Minne zugetan“, ergänzte ich.
„Und ich habe damit zu leben“, fuhr Graf Heinrich fort, indem er sich an Gerhard wandte. „So wie jeder echte Ritter das Haupt beugen muss vor wahrer Liebe. Manchmal befremdet mich der Gedanke zwar selber, aber bei deinem Herren wäre es nicht anders, wenn jemand seine Frau verehren würde. Wahre, hohe Liebe, ist stets das höchste Gut dieser Welt.“
„Er meint hohe Minne, nicht niedere. Und jetzt mach den Mund wieder zu!“ Manchmal hatte es Dixit an sich, den Punkt zu treffen, wie vorlaut auch immer.
Mein Blick wanderte zum Boden. Gleichzeitig spürte ich den meines Schülers in meiner Seite stechen.
„Habt Ihr mich deshalb hierhin gebracht?“, fragte er.
„Ja.“
„Wegen einer Frau, die Ihr liebt, auch wenn Ihr sie niemals haben könnt?“
Ich grinste. Die letzte, verwirrte Frage war Gerhard einfach so herausgerutscht. Trotzdem zeigte sie, was er wirklich dachte, und mit ihm viele Andere, die das Rittertum nicht verstanden hatten.
„Es geht nicht darum, irgendetwas oder jemanden zu haben oder zu besitzen. Es geht darum, die Welt ein Stück besser zu machen. Für das und die, die man liebt. Es soll ihr gut gehen, der Rest ist nebensächlich.“
„Aber was ist mit Euch selbst?“
„Mir geht es besser, wenn es ihr besser geht, weil ich mich dann für sie freuen kann.“
„Und das reicht Euch?“
„Je mehr du deine Dame wirklich liebst, umso mehr wird es dir reichen.“
„Es gibt viele Geschichten“, warf Dixit ein, „von Rittern, denen es nicht mehr reichte, und die zu der hohen Minne auch die niedere wollten. Aber selbst ich gebe zu, das es für jeden von diesen auch einen gibt, dem seine Vorstellungen wichtiger waren als sein Unterleib.“
„Wie kann das sein? Wenn ich eine Frau liebe, dann verlange ich auch nach ihr.“
„Es ist das Recht der Jugend, Dummheiten zu machen. Dazu gehört auch, zu glauben, dass ein Mann sich nicht selbst beherrschen könnte. Wenn du älter wirst, wirst du feststellen, dass der Geist den Körper beherrscht, und nicht umgekehrt. Jedenfalls sollte das so sein, wenn du dich noch Edelmann nennen willst.“
„Ich will aber nicht nichts spüren wollen!“ Gerhards Stimme überschlug sich plötzlich.
„Wer redet denn davon? Gerade, weil du etwas spürst, solltest du es in sinnvolle Bahnen leiten können. Oder glaubst du, ich hätte zwei wundervolle Töchter, weil ich Ginevra nur Gedichte geschrieben hätte?“
Er schwieg betreten. Dann sah er auf.
„Wollt Ihr sagen, das die Frau, die man liebt, und diejenige, mit der man,... nun, Kinder hat, manchmal eine andere ist?“
„So etwas in der Richtung. Die Kirche sagt sicherlich etwas Anderes. Es mag schön sein, wenn beides zusammenfällt. Doch seien wir ehrlich: Viele Ehen werden verabredet, ohne, dass sich die Brautleute überhaupt kennen. Wie soll denn da echte Liebe gedeihen? In einer Ehe sollte man dem anderen offen in die Augen sehen können. Eine tiefe, ehrliche Freundschaft ist da wünschenswert, und die habe ich mit meiner Frau Ginevra.“
„Aber die Liebe...“, begann Gerhard.
„Die Liebe ist eine wundervolle Sache. Ihretwegen habe ich dich hierhin mitgenommen. Nur sind deine Liebe und dein Verlangen oft genug zwei unterschiedliche Dinge. Beides sollte Teil von deinem Leben sein, sonst bist du entweder ein Mönch oder ein Arschloch. Und ich habe vor, dich zu einem Ritter zu machen.“
„Gibt es denn keine Hoffnung für wahre Liebe?“ Gerhard verfiel von einer seltsamen Vorstellung in die nächste.
„Doch. Es ist wahre Liebe, die ich für die Herrin Fee von Volmarstein empfinde. Trotzdem kann ich meine Kinder mit meiner Frau haben.“
„Ich bin übrigens auch schon für andere Frauen in die Schranken geritten“, warf Graf Heinrich ein.
Gerhard wandte den Blick wieder zu Boden. Er wusste offensichtlich nicht, was er sagen sollte, und lief statt dessen rot an.
„Es gibt genug willige Weiber, die sich mit dir vergnügen wollen“, trompetete Dixit. Er hieb Gerhard von unten auf den Rücken, so dass dieser taumelte.
„Als kleiner Hinweis nebenbei:“, meinte der Graf. „Wenn du einer Frau immer nur in die Augen sehen willst, dann ist es echte Liebe. Wenn du ihr auf den Hintern schaust, dann ist es Verlangen.“
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