In mehrstöckigen Gebäuden nehme ich sonst grundsätzlich den Aufzug, jetzt aber hastete ich durch das Treppenhaus hinab, an roboterhaft staksenden Menschen vorbei und durch die Pforte hinaus ins Freie.
Es hatte zu regnen begonnen. Hier schüttete es, während weiter hinten die schönste Sonne einen bewaldeten Bergrücken beleuchtete. Auf dem Parkplatz versuchte ich die Tür meines Wagens zu öffnen, bis ich merkte, dass ich im Schloss eines fremden Autos herumstocherte. Als ich meinen Wagen schließlich gefunden hatte, ließ ich mich durchnässt in den Sitz fallen. Ich zitterte an allen Gliedern. War meine Reaktion richtig gewesen? Ich zündete eine Zigarette an. Sie schmeckte wie jene grüne Rankenstängel im Wald, mit denen wir als Halbwüchsige einst unsere ersten Rauchversuche absolvierten und die einen so bitteren, beißenden, furchtbaren Dampf verströmten, dass sie mir diesen Sport eigentlich gleich damals für alle Zeiten hätten vergällen müssen. Sie verdächtigen dich alle, hörte ich mein Gewissen wie einen igendwo hinter mir schwebenden Geist flüstern. Was wirst du tun? Für den langen Arzt wäre ich ein unbekannter Besucher und damit bedeutungslos geblieben, wäre ich jetzt auf Nimmerwiedersehen weg gefahren. Aber wie, wenn Occhio mit jemandem – mit Ursula vielleicht – über mich, über meinen Besuch gestern bei ihm, über unsere Abmachung gesprochen hatte? Oder gar darüber, dass er mich heute wieder erwartete? Was war mit ihm geschehen? Er war doch schon einmal gestürzt, vielleicht war es wieder nur ein Schwächeanfall. Aber, wenn ihn womöglich jemand ermordet hatte? Mit Gift, oder erstochen? War mir die tödliche Wunde, das Blut auf den Bodenfliesen nur deshalb verborgen geblieben, weil ich Occhio nicht umgedreht hatte? Nein, nun steckte ich in einer ganz furchtbaren Sache, man konnte mir Dinge anhängen, mit denen ich nichts zu tun hatte!
Langsam, um mich zu beruhigen, ging ich mit aufgespanntem Regenschirm, obwohl die ganze Welt wieder in das unschuldigste Sonnenlicht getaucht war, zur Pforte zurück, tappte durch Wasserlachen und überlegte, was ich sagen würde, sollte mich jemand nach Markus Occhio fragen. Vielleicht hatte man ihn noch gar nicht entdeckt, vielleicht lag er nur ohnmächtig auf dem Boden. Er konnte auch wieder zu sich gekommen sein und wäre dankbar gewesen, wenn ihm jemand geholfen hätte, aufzustehen. Läge er noch dort, würde ich in den Gang hinaus eilen und einen Pfleger, einen Arzt, irgendjemanden um Hilfe bitten. Ich drückte den quadratischen Knopf am Aufzugsrahmen, um ihn herum leuchtete es grün auf, aber die Tür blieb ewig geschlossen, als sei der Aufzug stecken geblieben. Endlich der verhalten-trockene Gong, die Tür öffnete sich fast lautlos und zwei schweigende Frauen zwängten sich an mir vorbei. Oben trat ich auf den Flur, sah gegenüber ein WC-Schild, ging hinein, wusch mir den Schweiß aus dem Gesicht neben einer im Rollstuhl sitzenden Frau, die umständlich ihr Gebiss säuberte, und dazu schrecklich stöhnte, fuhr mit dem Kamm durch mein verwildert aussehendes Haar. Dabei entdeckte ich die Wunde über der Schläfe, zog ein Papierhandtuch aus dem Spender und tupfte das Blut ab, das mir bis auf den Hemdkragen herunter gelaufen war. Dann ging ich zum Zimmer 216, Gott sei Dank war dieser lange Arzt nirgends, klopfte an. Hatte jemand »Herein« gerufen? Ich trat ein, am Tisch ganz hinten stand eine Frau, die einer anderen gerade einen Löffel zum Mund führte. Entschuldigung, verzeihen Sie. Irritiert schaute ich nochmals auf das Türschild: 316, kein Wunder. Ich vergewisserte mich an den benachbarten Türen: links 315, rechts 317. Ich ging durch das Treppenhaus in den 2. Stock hinab und merkte erst dort, dass ich meinen Regenschirm nicht mehr hatte.
Einen sicheren Schritt vortäuschend und doch fürchtend, meine weichen Knie könnten mich einknicken lassen, visierte ich in der Hoffnung Zimmer 216 an, dort sei jetzt jemand und habe alles schon aufgeklärt. Ich klopfte zögerlich an: Stille. Wieder öffnete ich vorsichtig die Tür, kämpfte mit drei, vier Schritten gegen das entsetzlich gleißende Sonnenlicht an und sah es sofort: Occhio lag unverändert vor dem Waschbecken. Leichengeruch umfing mich, Buchsgeruch. Für mich ist Leichengeruch mit Buchsgeruch verbunden, denn in meiner Kindheit wurden die Särge mit den Toten, die damals bis zur Beerdigung in den Häusern standen, mit Buchszweigen drapiert. Doch mein Verstand sagte mir, das sei dumme Einbildung, weil es nirgends in dem sonst freundlichen Zimmer auch nur einen einzigen Buchszweig gab. Die Blumen in der Vase waren Sonnenblumen und Zinnien und andere, die ich nicht kannte, und sie rochen sicher nicht wie Buchs. Sofort trat ich wieder auf den Gang hinaus, suchte nach einer Tür, auf der ‚Stationsarzt‘, ‚Krankenschwester‘, ‚Zutritt verboten‘ oder Ähnliches stand. Aus einem der Krankenzimmer kam eine Schwester und huschte quer über den Gang; wir vermieden den Zusammenstoß, und sie fragte streng: »Ja?«
Ich stotterte: »Entschuldigung. ... Es ist so ... ich wollte eigentlich schon einmal Herrn Occhio besuchen, aber ich glaube, er hat einen Anfall oder ... ich weiß es nicht. Er liegt auf dem Boden ... er antwortet nicht.«
»Zimmer 216?« vernahm ich ihre männlich tiefe Stimme.
»Ja, 216. Dort, rechts.«
»Mein Gott, Oktschio!« stieß sie aus, drehte sich abrupt um und rannte nach 216.
Ich zwang mich, gemächlich ihren kläppernden Schritten nachzugehen, um mich in keinem Falle verdächtig zu machen. Da stürzte sie schon wieder heraus, verschwand hinter einer der gegenüberliegenden Türen und kurz danach sah ich eine an der Decke hängende Kugel rot blinken. Da war sie wieder, kläpperte wieder in Richtung 216, verlor dabei einen Schuh, bremste, um die umgekehrt da liegende Öffnung mit dem entblößten Fuß irgendwie zu angeln und wieder hinein zu schlüpfen. Eine zweite Schwester zeigte sich auf dem Gang – es war Ursula, Occhios »Augenweide« – , und weiter vorne tauchte der Arzt auf; auch er schoss an mir vorbei in Richtung 216.
Ich blieb einige Schritte vor der Tür stehen, hinter der sie jetzt Occhio wohl erste Hilfe leisteten. An der Wand vor mir hingen blasse Aquarelle, Burgen, Kirchen, durchweg in verkorkster Perspektive dargestellt. Nach einer Weile kamen der Arzt und die Krankenschwestern mit ernsten Mienen heraus. Ursula schlug zu meiner großen Erleichterung die andere Richtung ein.
»Tot?« fragte ich leise durch den vorwurfsvollen Blick der Krankenschwester hindurch, die den Schuh verloren hatte.
»Ja«, antwortete an ihrer Stelle der Arzt und sah mich einen Moment prüfend an. »Sie haben sich an der Schläfe verletzt.«
»Das kommt vor«, antwortete ich und traute mich nicht, nach der Wunde zu tasten. Der Arzt fragte: »Waren Sie nicht schon einmal bei Herrn Occhio, vor einer viertel, halben Stunde?«
»Ja«, würgte ich heraus.
»Gut – dann sollten wir miteinander reden. Kommen Sie doch bitte mit mir.«
Er führte mich in einen nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln riechenden Raum, bot mir einen Stuhl an, und ging nochmals hinaus. Von draußen herein hörte ich ihn mit der Krankenschwester reden. Vielleicht gab er ihr Anweisungen, was mit dem Leichnam zu geschehen hatte. Meine Aufregung hatte sich etwas gelegt, denn ich sagte mir: Das Einzige, was in dieser Situation auf deiner Seite angreifbar ist, ist die Sache mit dem Diktiergerät. Markus Occhio hast du nichts getan. Sollte er jetzt nicht mehr leben, wäre es furchtbar, aber mit dir hat das alles nichts zu tun.
Eine Viertelstunde später, die mir wie eine Ewigkeit erschien, kam der Arzt endlich zurück, hinter ihm die Schwester. Sie blieb stehen und mir fiel ihr hartes Gesicht auf. Der Arzt nahm einen Streifen Leukoplast aus einem Schrank, trat zu mir, klebte ihn mir auf die Wunde und sagte: »Wenn Sie erlauben, das kann man ja nicht mitansehen.« Dann ließ er sich auf den Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch fallen, schob die auf der Tischplatte herumliegenden Medikamente auf einen Haufen zusammen, atmete tief durch, und sah von seiner beängstigenden Höhe auf mich herab.
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