»Herr Occhio war schwer krank«, sagte er, »aber er hatte sich hier relativ gut erholt. Sein Sturz vor einigen Tagen ... « Er zögerte, dann fuhr er fort: »Gestern morgen allerdings gab es einige Probleme. Ich bedauere zutiefst, dass er nun so unerwartet verstarb. Sind Sie verwandt mit ihm?«
»Nein, ein Bekannter«, erwiderte ich. »Genau genommen nicht einmal das.«
»Gut, Sie haben ihn besucht. Ich hätte doch sehr gerne gewusst, warum Sie vorhin so hastig sein Zimmer verließen, überstürzt, wie mir vorkam.«
Der Arzt war ein noch junger Mensch, vielleicht fünfundreißig – ich hätte fast sein Vater sein können. Beim Anblick seiner ergrauenden und seltsam wirren Haare dachte ich: Sicher hat er schon viel erlebt, Unglück, Krankheit, Leiden, Tod, Misserfolge in seinem Bemühen, Menschen die Gesundheit, wenigstens ein besseres Leben zurück zu geben. Sein Polizeiton wollte mir nicht recht dazu passen. Seine auf der Tischplatte liegende Hand zitterte.
»Die Situation hat mich«, brachte ich heraus, »wie soll ich es sagen ... verwirrt. Ich wollte Herrn Occhio besuchen. Als ich sein Zimmer zum ersten Mal betrat, lag er so am Boden vor dem Waschbecken, wie wahrscheinlich auch Sie ihn angetroffen haben.«
»Gut, aber warum haben Sie uns Ihre Entdeckung nicht gleich mitgeteilt?«
Ja, warum? Ich sah die Krankenschwester mit einer Gießkanne zu den Blumen am Fenster gehen. Die Kanne schien leer zu sein, es kam nur ein Spritzer Wasser heraus, der die lanzenförmigen, wie zu grünen Kanälen gekrümmten Blätter erreichte und von dort auf den Boden lief.
»Ich kann es Ihnen nicht genau sagen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich in dieser Art mit einem Menschen konfrontiert sah. Ich befürchtete schon gleich, Herr Occhio sei tot und fühlte mich in Panik. Ich hatte zuerst tatsächlich vor, davonzufahren, irgendwohin. Doch unten auf dem Parkplatz, ich saß bereits im Wagen, plagte mich das Gewissen, denn es hätte ja sein können, dass Herr Occhio in einer Schwäche gestürzt war und dringend Hilfe benötigte. Deshalb überwand ich mich, zurück zu kommen, um mich zu vergewissern, ob ich ihn nicht voreilig alleine gelassen hatte. Den Rest kennen Sie.«
»Gut. Das heißt, Sie waren auch beim ersten Mal nur kurzzeitig im Zimmer?«
Gut! Gut! Merkte der Mann nicht, dass er einen Sprachtick hatte? Gut! Wenn er ihn schon als Intelligenzler nicht selbst bemerkte, dann hätte ihn seine Frau oder sonst eine ihm nahe stehende Person darauf aufmerksam machen können. Unpassender als mit »Gut!« hätte man im Moment keinen Satz einleiten können, denn es war überhaupt nichts gut. Eine seltsame Aggression hatte mich erfasst.
Die Krankenschwester hatte die Kanne unter den Hahn im Waschbecken gestellt; das Wasser lief schon eine ganze Weile über. Abwechselnd blickte sie auf mich und auf den Arzt und übersah dabei völlig ihr sinnloses Tun. Dann drehte sie den Hahn zu und kippte die Kanne zur Henkelseite, um sie teilweise zu entleeren. Platschend schwappte das Wasser über den Beckenrand auf den Boden. Der Arzt drehte sich um und warf ihr einen strafenden Blick zu. Hier ging es um einen Toten und diese Krankenschwester dachte anscheinend an nichts anderes als an Gießkannen.
Was hatte der Arzt gesagt? »Entschuldigen Sie, ich war abwesend. Was meinten Sie?«
»Ob Sie auch beim ersten Mal nur kurzzeitig im Zimmer waren, hatte ich gefragt.«
»Ja, natürlich«, bestätigte ich, »ich rannte, wie ich Ihnen schon erläuterte, panikartig aus dem Zimmer, als ich Herrn Occhio so liegen sah.«
»Verzeihen Sie, wenn ich hartnäckig bohre. Aber Sie wissen ja, heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein ...«
»Ja, ich weiß es. Sie werden mich hoffentlich nicht in irgendeiner Weise verdächtigen.«
»Ich wüsste nicht, warum«, sagte er wenig überzeugend, aber ich gewann aus dieser Bemerkung den mich erleichternden Eindruck, dass er weder etwas von meinem gestrigen Besuch noch von der Übereinkunft zwischen mir und Occhio wusste.
»Gut. Für alle Fälle wäre ich Ihnen dankbar«, sagte der Arzt, »wenn Sie mir Ihre Personalien hier ließen. Es könnte sein, dass wir nochmals ihr Hilfe benötigen.«
Ich zog ein Visitenkärtchen heraus und reichte es ihm hinüber. Wieder fiel mir seine zitternde Hand auf.
»Herr Unstihl«, sagte er, »Journalist?« Er sah mich durchdringend an.
»Ja, Journalist.«
Die Augen hinter seiner randlosen Brille suchten irritiert, wie mir schien, mein Gesicht nach irgendetwas ab. Vielleicht kannte er mich.
»Dürfte ich auch Ihren Namen erfahren?«
»Natürlich: Doktor Mein-Stilling. Ich bin Oberarzt.« Ich notierte den Namen.
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und ein älterer Arzt in weißem Mantel stürzte herein, entschuldigte sich atemlos und stieß heraus: »Könntest du ganz schnell kommen – es nimmt kein Ende! Ich bin hinten im Abstellraum.« Der Alte hastete wieder hinaus.
»Gut, Herr Unstihl«, sagte Dr. Mein-Stilling im Aufstehen zu mir, »ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen.«
Wie nie zuvor sehnte ich mich danach, an die frische Luft zu kommen, das Zimmer, den Krankenhausmief, das Gebäude hinter mich zu bringen. Als ich auf den Gang trat, schoben Pfleger ein Krankenbett vorbei, auf dem eine mit einem weißen Laken zugedeckte Gestalt lag. Dich plagen keine Sorgen mehr, Markus Occhio, dachte ich. Da die Pfleger mit der Leiche auf den Lift zusteuerten, bog ich wieder ins Treppenhaus ab – ich wollte nicht zusammen mit einem Toten im engen Aufzug stehen.
An der Klinikpforte bat ich um die Telefonnummer von Frau Occhio. Der Schneckennudelmann behauptete, er kenne sie nicht. Dabei fiel mir ein, dass meine Frage überflüssig gewesen war, denn die Nummer stand bereits in meinem Terminkalender.
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