Nur das offensichtliche Wohlwollen der Großen Mutter, Shanaii-Doras-Sha, hatte ihn davor bewahrt, verstoßen oder gar als nutzloser Fresser getötet zu werden. Sie hatte darüber gewacht, dass er die Schriften des Volkes studierte, und sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie überzeugt war, Olud werde dem Volk große Dienste erweisen.
Kein Raan würde es jemals wagen, die Meinung der Großen Mutter in Zweifel zu ziehen. Sie war es gewesen, die das Volk endlich geeint hatte, und trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, erwies sich Shanaii-Doras-Sha noch immer als ausgesprochen agiles Weibchen.
Nun stand sie, mit dem an sich zweifelnden Olud-Sha, auf dem höchsten Punkt der Stadt, welche, ihren Besitzern gemäß, Sha genannt und, der Sitte des Volkes entsprechend, als Gelege bezeichnet wurde.
„Einst waren wir nur wenige“, sagte die Große Mutter und wies mit einem Vorderlauf über die Stadt hinweg. „Unsere Gelege waren klein und wir mussten uns vor den Räubern der Wüste verstecken. Aber die Göttin des Eis schenkte uns die Fähigkeit des Denkens und die Fertigkeit, uns mit der Hilfe unserer Klauen Werkzeuge und Waffen zu erschaffen. Nun sind die einstigen Räuber die gejagten und bereichern unsere Vorräte.“ Shanaii entblößte amüsiert ihre Reißzähne, wobei sie die Kiefer geschlossen hielt. „Als wir die Räuber besiegten, wurden unsere Gelege größer. Wir fanden nicht mehr genug Nahrung für unsere Brut, begannen sie bei anderen Gelegen zu stehlen. Gelege kämpfte gegen Gelege.“
Olud nickte betrübt. „Du hast es beendet, Große Mutter.“
„Nach dem Willen der Göttin.“ Shanaii-Doras-Sha legte für einen Augenblick den rechten Vorderlauf Ehrfurchtsvoll über ihre Augen, machte sich so symbolisch blind und schutzlos, und Olud folgte rasch ihrer Geste, bis die Große Mutter ihn erneut ansah. „Sie gab mir die Kraft, die endlosen Kriege der Gelege zu beenden und unser Volk endlich zu einen.“
„Der Göttin des Eis sei Dank“, murmelte Olud.
Die Herrin der Raan lächelte. „Ja, der Göttin sei Dank.“ Sie stieß das kleine Männchen auffordernd an und wies erneut um sich. „Was siehst du, Olud-Sha?“
„Ich sehe das Gelege der Sha“, erwiderte er unsicher.
Die Stadt der Sha erhob sich inmitten einer unendlich erscheinenden Wüste. Der helle Sand reflektierte das Sonnenlicht und blendete Olud, während er seinen Blick über die Stadt gleiten ließ. Die inneren Nickhäute schoben sich vor und dämpften das Licht, versahen die schwarzen Augäpfel, mit ihren gelben, geschlitzten Pupillen, mit der notwendigen Feuchtigkeit.
Die Stadt ähnelte einem stumpfen Kegel, der äußerlich nur durch seine enorme Größe beeindruckend wirkte. Um den Kegel zog sich spiralförmig eine Rinne, deren Oberfläche von den Sha sorgfältig geschmolzen und geglättet worden war. Zahlreiche Öffnungen mündeten vom Inneren des Kegels an dieser Rinne. Diese Öffnungen waren Teil des komplizierten Belüftungs- und Temperaturregelungssystems des Geleges. Im Alarmfall boten sie den Kriegerinnen zudem die Möglichkeit, die Rinne rasch zu erreichen und über sie blitzartig zum Boden hinabzugleiten, um einem Angreifer zu begegnen. Für einen Feind war es hingegen unmöglich, sie zu ersteigen, er musste die beiden großen Tore am Stumpf des Kegels einnehmen, um in das Gelege vorzudringen.
In unregelmäßigen Abständen erhoben sich kaminartige Schlote, die ebenfalls der Belüftung galten. Als Reptilien waren die Raan ursprünglich nur in der Tageshitze aktiv gewesen, und in der Nacht, wenn die Temperaturen in der Wüste unter den Gefrierpunkt von Wasser fielen, waren sie förmlich erstarrt. Erst die Fähigkeit, Werkzeuge und Hilfsmittel zu entwickeln, hatte sie von den Temperaturen unabhängiger gemacht. Auch wenn sie es bevorzugten nackt zu bleiben, so konnten sie nötigenfalls warme Bekleidung tragen, um Nachtaktiv sein zu können.
Der Stadtkegel wurde von einer Unzahl von Gängen und Kammern durchzogen. Ihre Wände bestanden, wie der gesamte Bau der Stadt, aus dem Sand der Wüste. Der Speichel der Raan enthielt eine Substanz, mit welcher sich der reichlich vorhandene Rohstoff fermentieren und härten ließ. Generationen hatten an der Stadt gewirkt, um dem Gelege die jetzige Größe zu geben.
Einst waren die Gänge und Kammern nur Zweckgebunden gewesen, aber mit seiner steigenden Intelligenz begann das Volk, einen Sinn für die Schönheit zu entwickeln. Mineralien und die in der Wüste wachsenden Kugelkakteen wurden genutzt, um die Wände mit farbenfrohen Motiven zu versehen. Die Raan lebten nach Männchen und Weibchen getrennt. Es gab einige besondere Räume, in denen die Geschlechter sich begegnen konnten, um sich der Brunst und Vermehrung hinzugeben. Ansonsten ging man sich aus dem Weg. Die weiblichen Raan dominierten das Bild der Stadt und übten sich in ihren Räumen in der Kunst des Tötens, die sie mit Perfektion beherrschten. Ihre Krallen und Kiefer waren stärker ausgeprägt, als die der Männchen, und inzwischen kamen noch jene Waffen hinzu, welche in den Schmieden entstanden. Die Schmieden wurden von Männchen betrieben, die sich auch um die Brutpflege und Klimatisierung des Geleges zu kümmern hatten.
Oben, in der Spitze des Kegels, befanden sich die Gemächer der Herrin von Sha, der Großen Mutter Shanaii-Doras-Sha, tief unten lagen die Bruthöhlen, in denen die Männchen, unter der Aufsicht wachsamer Kriegerinnen, die Eier pflegten. Einst hatte man dies nicht riskieren können. So selten es auch Regen in der Wüste gab, so waren die Wasserstürme zu Recht gefürchtet. Früher hatte man die Eier in den oberen Ebenen lagern müssen, da die unteren Räume zu schnell vom Wasser bedroht wurden. Da die Eier zu ihrer Reife jedoch eine bestimmte Temperatur benötigten, waren die Männchen gezwungen gewesen, sie ständig im Gelege hinauf oder hinab zu transportieren. Inzwischen hatten die Raan gelernt, ihr Gelege mit einem System von Schächten und Balgpumpen gleichmäßig zu klimatisieren.
Das Gelege der Sha war nicht die einzige Stadt der Raan, aber mit Sicherheit das größte Gelege des Volkes. Mehr als zwanzigtausend Köpfe zählte die Bevölkerung, darunter knapp zweitausend Männchen. Männchen, von denen Olud-Sha das unscheinbarste war.
„So, du siehst also das Gelege der Sha.“ Shanaii-Doras-Sha entblößte ein Stück ihrer Fänge. Ihr Blick wirkte verärgert, als sie Olud musterte. „Wärst du ein gewöhnliches Männchen, so würde ich die Antwort gelten lassen. Aber von dir, Olud-Sha, erwarte ich eine intelligentere Antwort. Also, nochmals, Olud, was siehst du?“
Olud grub die oberen Reißzähne in seine untere Lefze und kratzte sich unbewusst mit einem Vorderlauf am Kehlsack. „Das Land der Raan?“
Die Große Mutter schnaubte und stieß ihren Schützling ärgerlich an. „Olud!“ Sie schüttelte missbilligend den langen Schädel. „Besinne dich auf deine Fähigkeiten! Was meinst du, warum ich dich das Buch der Bücher studieren ließ? Nur wenige Kriegerinnen haben diese Ehre und du bist ein Männchen !“
Um die Stadt der Sha erstreckte sich die Wüste. Sie wirkte unendlich und, auf den ersten, flüchtigen Blick, nahezu leblos. Der Sand bedeckte den Boden in sanften Kuppen und Mulden. Oft strich Wind über ihn hinweg und brachte ihn in Bewegung. Es gab ausgedehnte Wälder der Kugelkakteen, die sich mit ihren langen Stacheln verankerten, um den Böen zu widerstehen. Die Kakteen ernährten sich von Mineralien und kleinen Insekten, die im Boden lebten. Zwischen ihnen huschte gelegentlich einer der kleinen Wüstennager umher. Die Pflanzenfresser suchten nach kranken oder abgestorbenen Kakteen und fanden zwischen den Pflanzen Schutz vor den seltenen Raubvögeln, die in den warmen Luftströmungen über der Wüste kreisten oder vor den noch seltener gewordenen Sharaks, die den Kampf gegen die Raan verloren hatten. Einst gefürchtete Raubtiere und die Herren der Wüste, waren die sechsbeinigen Räuber nun selber Bestandteil der Nahrungskette, und sie standen nicht mehr an ihrem oberen Ende.
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