Nein, überzeugt hat Leonore Florian erneut nicht, so ausgesucht sie auch diesmal wieder gesprochen hat. Er merkt sich, wie immer, ihre Worte, aber sein Begriff von Ordnung, auch der einer Gesellschaftsordnung mit oben und unten und all ihren Abstufungen, für jeden betretbar, hinauf und herunter, dieser Begriff, festgemauert wie eine Kirchenburg, hat so wenig Schaden genommen wie eine Altardecke nach umgekipptem Messwein. Seinen Glauben an Ordnung und Gerechtigkeit zu erschüttern, reichen Leonores Mörser bei aller Macht ihrer Munition nicht aus. Hätte gleichzeitig Heiner Geschütze aufgefahren und ihm Schach geboten, vielleicht dann … Aber Heiner ist nicht zugegen und niemand weiß, was mit ihm los ist.
Weithin ist er sichtbar: der stilisierte rote Turm mit dem Zinnenkranz, der sich unablässig, nachts wie ein Leuchtfeuer, auf dem gläsernen Verwaltungshochhaus dreht. Der Name „Thurmeisen“ strahlt in großen roten Buchstaben von den Dächern des Hauptlabors und der Fertigungshallen. Er leuchtet am Hochregallager. Er dreht sich mit den Kränen am Kai der Firma. Er rollt auf Lieferwagen und Lastzügen über die Straßen und Autobahnen und schwimmt auf Containern über die Weltmeere. Er titelt die dicken Arzneimittelkataloge, nach denen in aller Länder Sprachen die Kunden aller Länder ihre Bestellungen aufgeben. Er schmückt die Briefköpfe der Schreiben und Rechnungen, die abgehen nach Amerika, Asien, Australien, und er adressiert die Zahlungen, die von dort eintreffen. Und letztlich steht er auf den Packungen und Fläschchen, die der kranke Käufer öffnet, wenn es ihm schlecht, und verflucht, wenn es ihm hernach nicht besser geht. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie einen Arzt oder Apotheker , sollten Sie die Packungsbeilage nicht kapieren.
Thurmeisen kennt jeder, aber wenige wissen: Thurmeisen gehört seit der Fusion vor zwei Jahren German Chemicals. Die Direktoren residieren in Frankfurt am Main, die Forschung ist allerdings bei Thurmeisen verblieben, dicht an der Spree. Hier werden die Medikamente entwickelt. Getestet, gefertigt, verpackt, versandt werden sie immer häufiger andernorts, in den Vororten von Qingdao und Tampico, Ho-Chi-Minh-Stadt, neuerdings auch Sao Paulo und, so die Götter wollen, in nicht allzu weiter Ferne auch in Mumbai.
Unpünktlichkeit droht. Florians erschrockener Blick auf die Uhr am Firmeneingang: später als er dachte. Weck den Tiger in dir! Im Slalom durch die Lücken auf dem Parkplatz. Vier Minuten, dann beginnt ihre Kernzeit. Seine Gelenke jucken noch von den Handfesseln der Nacht, der Bauch brüllt nach Frühstück. Ausgefallen! Der Leere in Leos Kühlschrank wegen.
Leonore lächelt zur Pförtnerkabine hin, erwidert von dem Mann im Dienstanzug. Florian zieht seinen Firmenausweis. Im Foyer eine flüchtige Umarmung. Trennung bis zur Mittagszeit. Florian blickt ihr nach. Leger schlawinert ein Kollege an sie heran (derselbe wie immer). Ein Scherzwort. Sie lacht hell auf und zieht ihn mit sich in den Paternoster. Schnell dreht sie sich um. Bückt sich. Pustet Florian einen Kuss zu. Er sieht noch ihren Hosensaum und die schwarzen Slipper verschwinden, dann ist sie aufgefahren in die Büroebene. Über die Treppe hinab durch den Hinterausgang trottet Flo das Kopfsteinpflaster des weiten Firmenhofs hinunter zu seinem Arbeitsplatz am Ufer der Spree.
Dort, hart am Wasser, steht einsam ein altes Haus, umgeben von Postmorderne, als gehöre es dort gar nicht hin. Rote Klinkermauern, trutzige Ecktürme mit Zinnenkränzen, schmale Rundbogenfenster: Dahinter hütet Florian das Firmenarchiv, die Tradition der Firma, als berge es seine eigene Vita.
Am Anfang stand Leonhard Thurmeisen, der Apotheker, der Firmengründer. Erstaunlich. Fast nichts aus seiner Zeit blieb: Weder seine Villa noch der Park noch der Festsaal noch die Turnhalle noch die Kapelle. Die Orte wo Chef und Belegschaft spazierten, feierten, turnten und beteten, nichts ist übrig davon; das Unternehmen hat sich darüber ausgebreitet. Einzig das rote Haus am Wasser blieb, unbeachtet, im Abseits, scheinbar nutzlos geworden. Einst Dormitorium und Refektorium für Papa Thurmeisens ledige Arbeiter, Stätte ruhigen Schlafes, nahrhaften Essens, erbaulicher Betätigung. Kartenspiel, Raufen und Saufen führten zum Rauswurf. Mit Sack und Pack. Da kannte der alte Thurmeisen keinen Spaß.
Doch die zahllosen Aktionäre, die nach seinem Tode die Firma in Anteile häckselten: Was kümmerte sie, wo die Leute schnarchten oder schmausten, was sie trieben oder tranken? Das Ledigenheim wurde zum Kostenfaktor. Die Männer mussten raus. Schwamm und Holzbock zogen ein, bis der Vorstand der AG die Ruine für sich entdeckte. Sie wurde entkernt. Granit und Glas, Messing und Marmor hielten Einzug. Dazu ein Saal mit Panoramafenster und Blick auf den Fluss. Geschäftspartner beeindrucken? Den Geist der Firma beschwören? Dann hier im Haus am Wasser! Nicht in Frankfurt.
Im Souterrain arbeitet Florian. Da wo Thurmeisens Mamsells kochten, hortet Florian seine Schätze. In einem länglichen, schmalen Raum vom Zuschnitt einer Haftzelle steht sein Schreibtisch. An der Tür steckt in einem Plastikschlitz – schnell auswechselbar – ein Papierstreifen: „Archiv. U1. Haselbach“.
Aus seinem Ölporträt über der Tür schaut der alte Thurmeisen in die Bürozelle, so streng, als sei er unzufrieden mit der Enge, in der sein Vermächtnis gehütet wird. Entsetzt über die billigen Regale an den Längswänden, entsetzt über den mickrigen Schreibtisch, entsetzt über den schäbigen Stuhl davor. Florian vermag dem Alten kein Lächeln abzuringen, so peinlich er auf Ordnung achtet. Die Bücher, die Ordner, die Vorgänge, die Ablagen, ja selbst die Kaffeemaschine, Keksbüchse, der Wasserkocher und das Geschirr: Jegliches ist fest verortet. Auf dem Schreibtisch befinden sich, jedes an seinem Platz, im rechten Winkel zur Tischkante die üblichen Utensilien vom Locher bis zum Mousepad.
Dies ist Florians Klause, sein ora et labora. Tag für Tag. Selten krank. Pünktlich. Zuverlässig. Die Kollegen in den Büros und Labors, in einigem Abstand zu seinem ulkigen Haus am Ufer, mögen ihn gar nicht kennen oder für einen Eremiten halten. Was schert es ihn? Auch er steht in Thurmeisens Dienst. Genauso wie sie – fast: Er erhält Jahr für Jahr einen neuen Werksvertrag. Begrenzt, befristet. Befriedigend? Nun ja. Immerhin hat er einen Job. Immerhin darf er außerhalb der Kernzeit seiner wissenschaftlichen Arbeit nachgehen: „Feuersozietäten und Brandstiftungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts“. Bauern zünden aus Not ihre versicherten, elenden Lehmhütten an. Ein bisher nicht beackertes Feld. Vielleicht wird noch eine Promotion daraus.
Als Haselbach bei Thurmeisen begann, steckte man ihn in den Bereich Forschung. Korrekt. Er forschte ja, wenn auch nicht pharmazeutisch. Dann legte man ihm betriebsbedingt plötzlich einen neuen Vertrag zur Unterschrift vor. Er staunte. Sein Arbeitgeber hieß plötzlich Thurmeisen Catering GmbH. Er fragte den Betriebsrat. Der erklärte ihm, dies sei eine neue, hundertprozentige Tochter der Thurmeisen AG, allein dazu gegründet, dem Kantinenpersonal unabhängig vom Tarifvertrag der übrigen Belegschaft ein leistungsgerechteres Salär zu bieten. Ein niedrigeres. So sei das eben. Der Betriebsrat zuckte mit den Schultern. Florian ein Kantinenmitarbeiter? Der Betriebsrat zuckte noch einmal: Tja, er arbeite schließlich in einem Gebäude, in dem bei Tagungen auch gespeist werde. Ironie oder nicht? Florian war sich da nicht ganz sicher. Er unterschrieb mit knirschenden Zahnplomben. Sein Brutto liegt, fand Leo vor kurzem heraus, zwischen dem einer Küchenhilfe und dem des Kantinenkochs. Was hilft’s? Geht schon irgendwie in Ordnung. Hauptsache, er bekommt am Jahresende jeweils einen neuen Werksvertrag. Er ist zuversichtlich. Leistung muss sich wieder und wieder lohnen .
Читать дальше